ZVI 2018, 129

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2018 EditorialAndreas Rein

Nochmals: Erhöhung des Pfändungsfreibetrags bei faktischen Unterhaltspflichten?

Nach § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO kann dem Schuldner auf Antrag ein höherer unpfändbarer Teil seines Arbeitseinkommens verbleiben, wenn er und „die Personen, denen er Unterhalt zu gewähren hat“, anderenfalls hilfebedürftig i. S. d. SGB II bzw. des SGB XII1 würden und er dies nachweist. Es ist nun heftig umstritten, ob als eine derartige Unterhaltspflicht auch die Verpflichtung des Schuldners, im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II (s. § 7 Abs. 3 SGB II) sein Einkommen und Vermögen zur Deckung des Bedarfes der anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einzusetzen (s. § 9 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB II), anzusehen ist. Das SGB II verlangt den Vermögenseinsatz auch gegenüber Partnern und deren Kindern, denen gegenüber keine Unterhaltspflichten nach dem BGB bestehen (faktische Unterhaltspflicht). Ist dies nun auch im Rahmen des § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO zu berücksichtigen? Ein entsprechendes Bedürfnis dafür ist aus Sicht der (Schuldnerberatungs-)Praxis in jedem Fall gegeben. In seiner Entscheidung vom 19. 10. 2017 (ZVI 2018, 33; dazu bereits Andreas Schmidt, ZVI 2018, 1) hat der BGH entschieden, dass eine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags nicht erfolgt, wenn der Schuldner mit einer nicht unterhaltsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebt und diese wegen der Zurechnung seines Einkommens nicht hilfebedürftig ist. Damit hat der BGH aber den oben benannten Meinungsstreit (auch ausdrücklich: vgl. Rz. 8 der Entscheidung) nicht entschieden, da die Voraussetzungen des § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO schlicht nicht vorliegen: Die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft werden durch die Pfändung nicht hilfebedürftig im Sinne der Vorschrift.
Also: Alles gut? Nein, denn es steht zu befürchten, dass die Argumentation, mit der der BGH den Vollstreckungsschutz des § 765a ZPO (Rz. 11 ff. der Entscheidung) verneint, auch zur Entscheidung des vorliegenden Meinungsstreits herangezogen wird.
Zunächst: Der Wortlaut der Vorschrift ist nicht eindeutig: Der Ausdruck „Personen, denen er Unterhalt zu gewähren hat“ (§ 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO) kann natürlich Personen meinen, denen gegenüber eine gesetzliche Unterhaltspflicht etwa i. S. d. §§ 1601 ff. oder §§ 1360, 1361 BGB besteht. Wenn der Gesetzgeber allein diesen Personenkreis gemeint hätte, hätte es nahegelegen, ihn, wie in Buchstabe c dieser Vorschrift, auch entsprechend zu bezeichnen (dort ist von „gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners“ die Rede). Deshalb könnte auch eine Einstandspflicht i. S. d. § 9 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB II gemeint sein (die man im Übrigen bei einer weiten Auslegung auch als „gesetzliche Unterhaltspflicht“ sehen könnte).
ZVI 2018, 130
Entscheidend ist aber aus Sicht des Verfassers eine sozialrechtliche Erwägung. Gehen wir einmal davon aus, dass die faktische Unterhaltspflicht nicht in den Anwendungsbereich des § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO einzubeziehen ist. Damit wäre für einen Schuldner, den allein faktische Unterhaltspflichten treffen, eine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags auch dann nicht möglich, wenn auf Grund einer Pfändung sein Bedarf und der Bedarf der Personen, denen gegenüber er einstandspflichtig i. S. d. § 9 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB II ist, nicht gedeckt ist. Die Pfändung hätte dann unmittelbar zur Folge, dass die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft hilfebedürftig würden und Arbeitslosengeld II beziehen müssten (so auch Lackmann, ZVI 2017, 409, 412). Damit würde aber die Zwangsvollstreckung zu Lasten der Staatskasse gehen, denn wäre die Erhöhung der Pfändungsfreibeträge möglich, könnte nicht gepfändet werden und eine Hilfebedürftigkeit – und damit eine Leistungsverpflichtung des Staates – entstünde nicht. Eine Pfändung darf aber nicht zu Lasten öffentlicher Mittel erfolgen; dem Schuldner dürfen bei der Zwangsvollstreckung keine Gegenstände entzogen werden, die ihm der Staat aus sozialen Gründen mit Leistungen der Sozialhilfe (bzw. hier: Grundsicherung) wieder zur Verfügung stellen müsste (so etwa BSG v. 16. 10. 2012 – B 14 AS 188/11 R, ZVI 2013, 244, Rz. 20; auch BGH v. 20. 6. 2013 – IX ZR 310/12, ZVI 2013, 361). Und das BSG (unter Rz. 22) geht unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht sogar noch einen Schritt weiter: Eine Rechtslage, die einem SGB II-Empfänger einen Anspruch auf ein Existenzminimum gegen den Staat einräumt (wie dies nach der Rechtsprechung des BVerfG der Fall ist) und andererseits einen Eingriff mit den Zwangsmitteln dieses Staates in das so geschützte Existenzminimum des SGB II-Empfängers erlaubt, wäre wegen Widersprüchlichkeit „schwerlich mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG vereinbar“. Es ist aber wichtig, Folgendes zu betonen: In der Entscheidung ging es um Personen, die bereits Alg II-Leistungen bezogen haben. Dennoch sind die Ausführungen nach Ansicht des Autors auch auf Personen zu übertragen, die erst durch die Pfändung hilfebedürftig werden.
Im Ergebnis kann daher – um den sozialrechtlichen Wertungen mit Verfassungsgarantie zur Durchsetzung zu verhelfen – nur eine Auslegung des § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO überzeugen, die auch die faktische Bedarfsgemeinschaft in den Anwendungsbereich einbezieht.
Einer entsprechenden Auslegung des § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO zur Lösung des Konfliktes zwischen Sozial- und Vollstreckungsrecht wird aber unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung teilweise eine Absage erteilt (so auch Andreas Schmidt, ZVI 2018, 1, 2; Dietzel, VIA 2018, 3, 4). Dazu ein weiterer Satz aus der lesenswerten Entscheidung des BSG aus dem Jahre 2013: „Für die Auslegung der Pfändungsvorschriften in … §§ 850 ff. ZPO geben die Regelungen der genannten Fürsorgesysteme im SGB II …. wichtige Anhaltspunkte, weil die Pfändungsverbote und die Bestimmungen des SGB II …, die jeweils dem Schutz der Erhaltung des Existenzminimums dienen, in einer engen Wechselwirkung zueinander stehen.“ Aus Sicht des Verfassers ist dem nichts mehr hinzuzufügen.
Prof. Dr. Andreas Rein, Ludwigshafen am Rhein
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Um die Darstellung zu vereinfachen, wird nachfolgend allein auf das Hilfesystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II Bezug genommen. Die Ausführungen gelten auch für die Sozialhilfe nach dem SGB XII.

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