RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln
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1619-3741
Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz
ZVI
2024
Dokumentation
Evaluationsbericht der Bundesregierung gem. Art. 107a EGInsO v. 12. 7. 2024 (BT-Drucks. 20/12250)
Nunmehr liegt der Evaluationsbericht der Bundesregierung zum Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschulbefreiungsverfahrens vor. Er wird im Folgenden im Volltext abgebildet. Das Editorial dieses Heftes befasst sich mit diesem Evaluationsbericht (Heyer, ZVI 2024, 365).
I. Einleitung
1. Evaluierungsauftrag
Mit dem zum 1. Oktober 2020 in Kraft getretenen Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3328) (nachfolgend: „Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz“) ist die reguläre Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens nach den
§§ 286 ff. der Insolvenzordnung (InsO) von ehemals sechs auf drei Jahre verkürzt worden. Nach Artikel 107a Absatz 1 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung (EGInsO) hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis zum 30. Juni 2024 zu berichten, wie sich die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern ausgewirkt hat. Zugleich sollen etwaige Hindernisse beleuchtet werden, die von der Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien für den wirtschaftlichen Neustart restschuldbefreiter Verbraucher ausgehen. Abhängig vom Ergebnis der Evaluierung sollen gesetzgeberische Maßnahmen vorgeschlagen werden (Artikel 107a Absatz 2 EGInsO).
2. Hintergrund und Zweck des Evaluierungsauftrags
Die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens war durch Vorgaben der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz vom 20. Juni 20191 (nachfolgend: „Richtlinie“) veranlasst. Nach Artikel 20 ff. der Richtlinie war sicherzustellen, dass sich unternehmerisch tätige Schuldner grundsätzlich binnen drei Jahren entschulden können. Das Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz ist darüber hinausgegangen und hat die Verfahrensdauer nicht nur für Unternehmer, sondern auch für Verbraucher verkürzt. Das war rechtspolitisch nicht unumstritten. Teilweise befürchtete man, dass die Verkürzung des Verfahrens dazu führen könnte, dass Verbraucher durch die erleichterten Möglichkeiten einer Entschuldung zu einem leichtfertigeren Umgang mit Schulden verleitet werden könnten. Um der unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie erwarteten Überschuldungswelle Rechnung zu tragen, sah der Regierungsentwurf zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz zwar auch eine Verfahrensverkürzung für Verbraucher vor, befristete die Regelung aber bis zum 1. Juli 2025 (Artikel 5 bis 8 des Regierungsentwurfs)2. Die auf der Grundlage dieser befristeten Regelung gesammelten Erfahrungen sollten evaluiert werden, um den Gesetzgeber im Falle erkannten Handlungsbedarfs in den Stand zu setzen, noch in der 20. Legislaturperiode etwaig veranlasste Änderungen vornehmen zu können.3 Der im parlamentarischen Verfahren erfolgte Wegfall der Befristung hat an Anlass und Gegenstand des Evaluierungsauftrags nichts geändert; der Auftrag bezieht sich nun auf die Erfahrungen zum Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern, die auf der Grundlage der unbefristeten Regelung gemacht wurden.
Der zweite Teil des Evaluierungsauftrags bezieht sich auf etwaige Hindernisse, die von den bestehenden Möglichkeiten der Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien für einen wirtschaftlichen Neustart von Verbrauchern wie Unternehmern nach der Erteilung einer Restschuldbefreiung ausgehen. Dieser Auftrag versteht sich vor dem Hintergrund der im Referentenentwurf zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz noch vorgesehenen Höchstfrist für die Speicherung insolvenzbezogener Daten, welche ein Jahr nach Erteilung der Restschuldbefreiung nicht überschreiten sollte (§ 301 Absatz 5 InsO-RefE). Diese Regelung wurde nicht in den Regierungsentwurf übernommen und löste damit das Interesse an Erkenntnissen darüber aus, wie sich die Speicherung von insolvenzbezogenen Daten auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neustarts nach Erteilung der Restschuldbefreiung auswirkt.
3. Wesentliche Ergebnisse
Anzeichen für negative Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern haben sich nicht feststellen lassen. Soweit sich relevante Daten überhaupt haben erheben lassen, bleibt deren Aussagekraft von vornherein durch zwei Faktoren eingeschränkt. Zum einen ist der Evaluationszeitraum für die Erhebung von Daten, welche Aufschluss über das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten geben können, knapp bemessen. Erste Restschuldbefreiungen im verkürzten Verfahren konnten frühestens im Oktober 2023 erteilt werden; eine systematische Erfassung des Zahlungs- und Wirtschaftsverhaltens der davon betroffenen Verbraucher für die Zwecke der im Juni 2024 abzuschließenden Evaluation war daher von Anfang an nicht möglich. Zum anderen ist der Evaluationszeitraum durch eine Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen gekennzeichnet, die geeignet sind, sich in besonderer Weise auf die finanzielle Situation von Verbrauchern auszuwirken und die deshalb der Verallgemeinerbarkeit jedweder empi-ZVI 2024, 401rischen Erkenntnis zum Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern die Grundlage entziehen. In den Evaluationszeitraum fallen unter anderem: die Auswirkungen und Spätfolgen der COVID-19-Pandemie, die binnen- und weltwirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine, die Störungen weltweiter Lieferketten und deren Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft, die Vervielfachung der Inflationsrate sowie die signifikanten Anhebungen des Zinsniveaus. Mangels Anhaltspunkten für Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten besteht derzeit kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
Die zweite Evaluierungsfrage zu den Auswirkungen der Speicherung insolvenzbezogener Daten durch Auskunfteien auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neustarts hat zu wesentlichen Teilen durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Dezember 2023 – C-26/22 und C-64/22 – ihre Erledigung gefunden. Hiernach sind Auskunfteien nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gehalten, aus öffentlichen Registern gewonnene insolvenzbezogene Daten nicht über die für das öffentliche Register geltende Speicherhöchstfrist hinaus zu speichern. Da diese Speicherfrist derzeit sechs Monate beträgt (§ 3 Absatz 1 und 2 der Verordnung zu öffentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren und Restrukturierungssachen im Internet (InsBekV)), geht die heutige Rechtslage weit über den gesetzgeberischen Plan des Referentenentwurfs zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz hinaus, der eine einjährige Speicherhöchstfrist vorgesehen hatte. Soweit ersichtlich und vom Verband „Die Wirtschaftsauskunfteien e. V.“ bestätigt, haben die Auskunfteien ihre Speicherpraxis an diese Rechtslage angepasst. Vor diesem Hintergrund besteht in Bezug auf das Anliegen, den wirtschaftlichen Neustart der Schuldner gegen Beeinträchtigungen abzusichern, die aus der Verfügbarkeit insolvenzbezogener Daten bei Auskunfteien herrühren, derzeit ebenfalls kein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
II. Grundlagen der Evaluation
Eine wesentliche Grundlage für die Evaluation waren die vom Statistischen Bundesamt (Destatis) zusammengestellten Daten zum Antragsgeschehen, welche insbesondere der bei Destatis geführten Datenbank GENESIS-Online (Tabellen 52411-0032 und 52411-0082) sowie der Datenerhebung der Länder aus der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Zivilsachen (ZP-Statistik) entnommen wurden. Zudem liegen der Evaluation schriftliche Stellungnahmen zugrunde, die im Rahmen einer schriftlichen Anhörung der betroffenen Fachkreise durch die folgenden Institutionen und Verbände eingereicht wurden:
- Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV),
- Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e. V. (BAG-SB),
- Bundesarbeitskreis der Insolvenz- und Restrukturierungsgerichte e. V. (BAKinso),
- Deutscher Anwaltverein (DAV),
- Die Deutsche Kreditwirtschaft,
- Die Wirtschaftsauskunfteien e. V.,
- Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e. V. (VID),
- Institut für Finanzdienstleistungen e. V. (iff),
- Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen,
- Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz,
- Verbraucherzentrale Sachsen.
Den Untersuchungen zur zweiten Evaluierungsfrage nach den Hindernissen, die von der Möglichkeit der Speicherung insolvenzbezogener Daten durch Auskunfteien auf den wirtschaftlichen Neustart nach der Erteilung der Restschuldbefreiung ausgehen, wurden im Wesentlichen zugrunde gelegt:
- das Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 7. Dezember 2023 in den verbundenen Rechtssachen C-26/22 und C-64/22 betreffend die Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 267 AEUV des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 23. Dezember 2021 und 31. Januar 2022 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie zur Speicherdauer von Daten aus einem öffentlichen Register im Zusammenhang mit der Restschuldbefreiung (ECLI:EU:C:2023:958)4,
- die diesbezüglichen Ausführungen in den oben genannten Stellungnahmen,
- die einschlägigen Veröffentlichungen in den juristischen Fachzeitschriften.
III. Erkenntnisse zum Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten
1. Entwicklung der Antragszahlen
Die Stellung von Anträgen auf Erteilung von Restschuldbefreiung wird weder nach dem Insolvenzstatistikgesetz (InsStatG) noch nach der Anordnung über die Erhebung statistischer Daten in Zivilsachen (ZP-Statistik) statistisch erfasst. Erfasst werden allein die Anträge auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Das Antragsgeschehen lässt sich aber auf der Grundlage der Insolvenzantragszahlen nachzeichnen. Da der Antrag auf Erteilung einer Restschuldbefreiung nach Maßgabe des § 287 Absatz 1 Satz 1 und 2 InsO mit dem Insolvenzantrag zu verbinden ist und in aller Regel auch verbunden wird, kann die Zahl der Insolvenzanträge als Indikator für die Zahl der Restschuldbefreiungsanträge herangezogen werden. Dabei wird angenommen, dass die Unschärfen, die durch die Möglichkeit ins Spiel kommen, dass ein Restschuldbefreiungsantrag im Einzelfall nicht rechtzeitig gestellt worden ist, vernachlässigt werden können.
Die Zahl der von Verbrauchern gestellten Insolvenzanträge war im Vorfeld des Inkrafttretens des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes zur Jahreswende 2020/21 tendenziell rückläufig. Wurden für das Jahr 2010 noch insgesamt 108.798 beantragte Verbraucherinsolvenzverfahren erfasst, sank die Zahl in den Folgejahren kontinuierlich auf 62.632 Verfahren im Jahr 2019. Im Laufe des Jahres 2020 setzte sich der Antragsrückgang fort. Die monatlichen Antragszahlen sanken von 5.453 im Januar 2020 auf 1.214 im September 2020, um bis Dezember 2020 wie-ZVI 2024, 402der leicht auf 2.633 anzusteigen und sich für das Gesamtjahr 2020 auf 41.753 zu summieren. Nach dem Inkrafttreten des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes im Dezember 2020 erhöhten sich die Antragszahlen sprunghaft. Im ersten Quartal des Jahres 2021 wurden im Januar 5.113, im Februar 7.776 und im März 9.797 Anträge gestellt. Zwischen April und Juli 2021 bewegten sich die Zahlen der monatlich beantragten Verfahren zwischen 6.438 (April 2021) und 7.164 (Juli 2021). Seither oszillieren die monatlichen Zahlen zwischen 5.100 und 6.100 Verfahren – mit wenigen und dabei unauffälligen Ausreißern nach oben (November 2021: 6.231, März 2022: 6.439, März 2023: 6.195) und unten (Oktober 2022: 5.041, April 2023: 4.906).
Die monatsweise Entwicklung der Antragszahlen im Zeitraum vom Januar 2017 bis März 2024 kann der als Anlage beigefügten Tabelle entnommen werden.
2. Entwicklung des Zahlungs- und Wirtschaftsverhaltens
Zum Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten ließen sich keine statistisch belastbaren Erkenntnisse gewinnen.
Die im Rahmen der schriftlichen Anhörung übermittelten Stellungnahmen gehen mehrheitlich davon aus, dass sich derzeit kaum belastbare Aussagen zu den möglichen Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten treffen lassen. Geltend gemacht wurde zum einen, dass der für die Erhebung von Daten zur Erfassung des Verbraucherverhaltens zur Verfügung stehende Zeitraum derzeit und bis auf Weiteres nicht ausreichend ist, um hinreichend belastbares Datenmaterial zu gewinnen. Zum anderen wurde geltend gemacht, dass das Verbraucherverhalten und die finanzielle Situation von Verbrauchern durch
Faktoren beeinflusst worden sind, die von der Verfahrensverkürzung unabhängig sind und wirksam geworden wären, wenn man die Verfahrensverkürzung hinwegdenkt. Ganz überwiegend werden jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass sich die Verfahrensverkürzung auf das Verbraucherverhalten ausgewirkt hat. Soweit für den Evaluationszeitraum Veränderungen im Verbraucherverhalten in Betracht gezogen werden, werden sie entweder als nicht signifikant eingestuft oder auf die Folgen der COVID-19-Pandemie und die gestiegenen Lebenshaltungskosten zurückgeführt. Eine Stellungnahme hat ausgeführt, dass sich in der Praxis der Schuldnerberatung erwiesen habe, dass Verbraucher von der Verfahrensverkürzung oftmals gar nicht wüssten; unter Verbrauchern sei die Annahme nicht unverbreitet, dass nach wie vor eine sechs- oder gar siebenjährige Laufzeit zur Erlangung einer Restschuldbefreiung gelte.
Einige Stellungnahmen gingen auf den sprunghaften Anstieg der Antragszahlen im Jahr 2021 ein und erklärten diesen damit, dass Privatpersonen im Jahr 2020 mit der Antragstellung bis zum Inkrafttreten des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes zugewartet haben, um sich in den Vorteil der verkürzten Verfahrensdauer zu bringen. Insoweit handele es sich um einen Nachholeffekt, mit dem die unterdurchschnittlichen Antragszahlen im Jahr 2020 kompensiert worden seien.
Eine Stellungnahme führte aus, dass sich die Zahl der Fälle gehäuft habe, in denen Schuldner, denen bereits unter altem Recht Restschuldbefreiung gewährt worden sei, eine erneute Restschuldbefreiung anstreben. Eine weitere Stellungnahme machte geltend, dass Schuldner in Restschuldbefreiungsverfahren nach neuen Recht in etwa 6 Prozent der Fälle in Zahlungsrückstand geraten. Zudem seien derzeit die in Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren erlangbaren Befriedigungsquoten mit 1,8 Prozent ausgesprochen niedrig.
3. Auswertung des vorliegenden Materials
Der signifikante Antragsrückgang im Jahr 2020 und der sprunghafte Anstieg im ersten Quartal des Jahres 2021 lassen sich, wie die im Rahmen der schriftlichen Anhörung abgegebenen Stellungnahmen bestätigt haben, mit der schon im Gesetzgebungsverfahren erkennbar gewordenen Neigung der Schuldner und deren Beratungsstellen erklären, im Jahr 2020 mit der Stellung von Anträgen bis zum Inkrafttreten des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes zuzuwarten, um in den Genuss der Verfahrensverkürzung zu kommen. Die Entwicklung der Antragszahlen seit Anfang des Jahres 2022 gibt keinen Hinweis darauf, dass Verbraucher vermehrt oder systematisch von der Möglichkeit einer Restschuldbefreiung Gebrauch machen wollen. Vielmehr bewegen sich die Zahlen weitgehend konstant auf dem Niveau von 2018 und 2019. Anhaltspunkte für eine dauerhafte oder strukturell bedingte wachsende Nachfrage nach Entschuldungen, die sich als Ausdruck einer ausbreitenden Sorglosigkeit von Verbrauchern in Finanzfragen interpretieren ließe, sind hiernach nicht ausmachbar.
Aber auch sonst ist nicht erkennbar, dass sich die Verfahrensverkürzung wesentlich auf das Wirtschafts- und Zahlungsverhalten ausgewirkt hat. Aus den in einer Stellungnahme geltend gemachten Zahlungsausfällen von Schuldnern in noch laufenden Verfahren folgt ohne weiteres nichts, was zur Beantwortung der Leitfrage taugt. Ergiebig könnte der Befund nur dann sein, wenn sich erweisen ließe, dass sich die Zahlungsausfälle im Vergleich zur früheren Rechtslage signifikant mehren; und auch dann käme es auf Art und Ausmaß der Zahlungsverzüge an. Zweifelhaft ist sodann die Ergiebigkeit des in einer anderen Stellungnahme geltend gemachten Befunds, dass unter den Schuldnern, die seit dem Jahr 2020 den Weg in das Restschuldbefreiungsverfahren suchen, vermehrt Schuldner zu finden sind, denen bereits Restschuldbefreiung erteilt worden ist. Ergiebig könnte dieser Befund allenfalls dann sein, wenn der relative Anteil der Schuldner mit bereits erlangter Restschuldbefreiung im Vergleich zur Situation unter dem alten Recht wachsen würde. Vor allem aber hat das Gesetz für den Fall eines zweiten Restschuldbefreiungsverfahrens nach bereits erteilter Restschuldbefreiung in Gestalt einer elfjährigen Sperrfrist eine Vorkehrung getroffen, deren Wirksamkeit sich frühestens 14 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes beurteilen lassen wird.
Im Rahmen der Anhörung ist überwiegend die Einschätzung zum Ausdruck gebracht worden, dass sich das neue Recht nicht oder nicht signifikant auf das Verhalten der Verbraucher ausgewirkt hat oder dass sich Auswirkungen mit Blick auf die Kürze des Evaluationszeitraums und die vielfältigen Sondereffekte gar nicht messen lassen. Da diese Effekte – neben den Folgen der COVID-19-Pandemie und dem Anstieg der Lebenshaltungskosten wären der Anstieg der Energiepreise und die Erhöhung des Zinsniveaus zu nennen – fraglos einen erheblichen Einfluss auf die Privathaushalte, deren Finanzsituation und Wirt-ZVI 2024, 403schaftsverhalten haben, erscheint es derzeit gar nicht möglich, den Einfluss der Verfahrensverkürzung auf das Verbraucherverhalten zu bestimmen.
IV. Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien
Die Frage zu den Auswirkungen der Speicherung insolvenzbezogener Daten durch Auskunfteien auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neustarts der betroffenen Personen hat zu wesentlichen Teilen durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Dezember 2023 in den verbundenen Rechtssachen C-26/22 und C-64/22 ihre Erledigung gefunden. Hiernach sind Auskunfteien nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a DSGVO gehalten, aus öffentlichen Registern gewonnene insolvenzbezogene Daten nicht über die für das öffentliche Register geltende Speicherhöchstfrist hinaus zu speichern. Da die Speicherfrist für Daten aus Insolvenz- und aus Restschuldbefreiungsverfahren derzeit gemäß § 3 Absatz 1 und 2 InsBekV sechs Monate beträgt, geht die heutige Rechtslage bereits weit über den gesetzgeberischen Plan des Referentenentwurfs zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz hinaus. Dieser hatte rücksichtlich der Widerrufsmöglichkeiten nach § 303 InsO eine einjährige Speicherhöchstfrist vorgesehen. Soweit ersichtlich und wie vom Verband „Die Wirtschaftsauskunfteien e. V.“ bestätigt, haben die Auskunfteien ihre Speicherpraxis umgehend an die neue Rechtslage angepasst. Vor diesem Hintergrund ist in Bezug auf das damalige Anliegen des Gesetzentwurfs, den wirtschaftlichen Neustart der Schuldner gegen Beeinträchtigungen aus einer langen Verfügbarkeit insolvenzbezogener Daten bei privaten Auskunfteien zu schützen, kein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf mehr gegeben.
V. Anregung weiterer Anpassungen aus der durchgeführten Anhörung
Mehrere Stellungnahmen haben die Evaluation zum Anlass genommen, zum Restschuldbefreiungsrecht sowie überhaupt zum Privatinsolvenzrecht Stellung zu nehmen und Vorschläge zu dessen Fortentwicklung zu unterbreiten. Die Vorschläge zielen insbesondere auf:
- die Ausweitung und Verbesserung des Beratungsangebots und die Einbeziehung von Freiberuflern, Solo- und Kleinselbstständigen;
- eine Vereinfachung der Antragsformulare und verbesserte Verständlichkeit der Erläuterungstexte;
- die Bindung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahrens an einen Antrag des Schuldners;
- die Beschränkung von Forderungsanmeldungen, -prüfungen und -feststellungen auf massehaltige Verbraucherinsolvenzverfahren;
- die Einführung einer dreimonatigen Ausschlussfrist für Forderungsanmeldungen in Verbraucherinsolvenzverfahren sowie einer Frist für Feststellungsklagen der Gläubiger;
- die Lösung der Verstrickung von massezugehörigen Forderungen aus einer vorausgegangenen Einzelzwangsvollstreckung;
- die Eingrenzung der von der Restschuldbefreiung nach § 302 InsO ausgenommenen Forderungen sowie Klarstellungen zum Anwendungsbereich dieser Vorschrift;
- die statistische Erfassung erneuter Antragstellungen nach Ablauf der Sperrfrist, um Regelungsnotwendigkeiten zur Aufdeckung und Vermeidung strategisch wiederkehrender Anträge („Drehtür-Effekte“) zu prüfen;
- die Schließung von Regelungslücken im Bereich der Sperrfristen nach § 287a InsO;
- die Vereinheitlichung der Versagungsgründe zur Erteilung einer Restschuldbefreiung während des Insolvenzverfahrens und in der Wohlverhaltensphase;
- die Erstreckung der nach der EuGH-Rechtsprechung von den Auskunfteien anerkannten Rechtslage zu den insolvenzbezogenen Speicherfristen auf Informationen über außergerichtliche Einigungen und einvernehmliche Schuldbefreiungen sowie die Schaffung einer umfassenden gesetzlichen Regelung zur Speicherdauer und zum Löschungsanspruch im Lichte der EuGH-Rechtsprechung.
Die Prüfung dieser Vorschläge, welche weit über den Gegenstand des Evaluierungsauftrags hinausgehen, war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Evaluationsberichts noch nicht abgeschlossen. Sollte sich im Zuge dieser Prüfung ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergeben, wird das Bundesministerium der Justiz geeignete Vorschläge erarbeiten.
Anlage
Tabelle: Insolvenzverfahren (Verbraucher): Deutschland, Beantragte Verfahren, Monate
Jahr/Monat |
eröffnet |
mangels Masse abgewiesen |
Schuldenbereinigungsplan angenommen |
Insgesamt |
2017 |
||||
Januar |
5.464 |
23 |
148 |
5.635 |
Februar |
5.531 |
27 |
121 |
5.679 |
März |
6.646 |
24 |
151 |
6.821 |
April |
5.367 |
24 |
115 |
5.506 |
Mai |
6.160 |
20 |
150 |
6.330 |
Juni |
5.935 |
14 |
137 |
6.086 |
Juli |
5.886 |
17 |
144 |
6.047 |
August |
6.050 |
25 |
178 |
6.253 |
September |
5.436 |
24 |
123 |
5.583 |
Oktober |
5.669 |
17 |
134 |
5.820 |
November |
6.366 |
23 |
164 |
6.553 |
Dezember |
5.450 |
18 |
115 |
5.583 |
Gesamt: |
71.896 |
|||
2018 |
||||
Januar |
5.688 |
29 |
148 |
5.865 |
Februar |
5.288 |
19 |
143 |
5.450 |
März |
5.585 |
26 |
141 |
5.752 |
April |
5.429 |
15 |
140 |
5.584 |
Mai |
5.399 |
50 |
125 |
5.574 |
ZVI 2024, 404 | ||||
Juni |
5.869 |
39 |
115 |
6.023 |
Juli |
5.844 |
67 |
114 |
6.025 |
August |
5.518 |
60 |
138 |
5.716 |
September |
5.040 |
44 |
128 |
5.212 |
Oktober |
5.433 |
52 |
109 |
5.594 |
November |
5.684 |
54 |
123 |
5.861 |
Dezember |
4.787 |
49 |
105 |
4.941 |
Gesamt: |
67.597 |
|||
2019 |
||||
Januar |
5.649 |
74 |
145 |
5.868 |
Februar |
4.996 |
49 |
106 |
5.151 |
März |
5.435 |
41 |
105 |
5.581 |
April |
5.323 |
41 |
114 |
5.478 |
Mai |
5.507 |
44 |
108 |
5.659 |
Juni |
4.863 |
36 |
121 |
5.020 |
Juli |
5.600 |
46 |
114 |
5.760 |
August |
5.082 |
41 |
116 |
5.239 |
September |
4.866 |
32 |
110 |
5.008 |
Oktober |
5.124 |
34 |
110 |
5.268 |
November |
4.687 |
16 |
89 |
4.792 |
Dezember |
3.700 |
12 |
96 |
3.808 |
Gesamt: |
62.632 |
|||
2020 |
||||
Januar |
5.303 |
22 |
128 |
5.453 |
Februar |
4.730 |
10 |
83 |
4.823 |
März |
4.707 |
13 |
99 |
4.819 |
April |
3.192 |
13 |
78 |
3.283 |
Mai |
4.220 |
21 |
94 |
4.335 |
Juni |
5.179 |
15 |
85 |
5.279 |
Juli |
3.908 |
24 |
92 |
4.024 |
August |
1.706 |
20 |
92 |
1.819 |
September |
1.107 |
16 |
90 |
1.214 |
Oktober |
1.775 |
9 |
73 |
1.857 |
November |
2.121 |
7 |
86 |
2.214 |
Dezember |
2.554 |
8 |
71 |
2.633 |
Gesamt: |
41.753 |
|||
2021 |
||||
Januar |
5.045 |
13 |
55 |
5.113 |
Februar |
7.706 |
5 |
65 |
7.776 |
März |
9.710 |
17 |
70 |
9.797 |
April |
6.368 |
14 |
56 |
6.438 |
Mai |
6.077 |
20 |
62 |
6.159 |
Juni |
6.930 |
19 |
72 |
7.021 |
Juli |
7.079 |
23 |
62 |
7.164 |
August |
5.700 |
23 |
56 |
5.779 |
September |
5.961 |
29 |
71 |
6.061 |
Oktober |
5.902 |
20 |
59 |
5.981 |
November |
6.133 |
24 |
74 |
6.231 |
Dezember |
6.004 |
30 |
66 |
6.100 |
Gesamt: |
79.620 |
|||
2022 |
||||
Januar |
5.131 |
21 |
69 |
5.221 |
Februar |
5.296 |
18 |
60 |
5.374 |
März |
6.344 |
34 |
61 |
6.439 |
April |
5.102 |
13 |
53 |
5.168 |
Mai |
5.822 |
17 |
58 |
5.897 |
Juni |
5.593 |
17 |
63 |
5.673 |
Juli |
5.234 |
20 |
50 |
5.304 |
August |
5.302 |
20 |
61 |
5.383 |
September |
5.376 |
12 |
50 |
5.438 |
Oktober |
4.947 |
31 |
63 |
5.041 |
November |
5.795 |
23 |
54 |
5.872 |
Dezember |
5.545 |
24 |
49 |
5.618 |
Gesamt: |
66.428 |
|||
2023 |
||||
Januar |
5.252 |
22 |
47 |
5.321 |
Februar |
5.097 |
18 |
45 |
5.160 |
März |
6.141 |
17 |
37 |
6.195 |
April |
4.846 |
17 |
43 |
4.906 |
Mai |
5.616 |
24 |
39 |
5.679 |
Juni |
5.821 |
18 |
40 |
5.879 |
Juli |
5.608 |
21 |
39 |
5.668 |
August |
5.785 |
14 |
44 |
5.843 |
September |
5.309 |
18 |
40 |
5.367 |
Oktober |
5.569 |
18 |
44 |
5.631 |
November |
5.741 |
30 |
40 |
5.811 |
Dezember |
5.367 |
14 |
46 |
5.427 |
Gesamt: |
66.887 |
|||
2024 |
||||
Januar |
5.589 |
27 |
39 |
5.655 |
Februar |
5.731 |
29 |
35 |
5.795 |
März |
5.975 |
24 |
29 |
6.028 |
Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Datenbank GENESIS-Online, Tabellen 52411-0032 und 52411-0082, zuletzt abgerufen am 24. Juni 2024
- 1
- 1)Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. L 172 vom 26. 6. 2019, S. 18).
- 2
- 2)Vgl. Bundestagsdrucksache 19/21981, Seite 11 ff.
- 3
- 3)Vgl. Bundestagsdrucksache 19/21981, Seite 24.
- 4
- 4)Veröffentlicht unter https://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?num=C-26/22&language=DE.