ZVI 2024, 400

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz ZVI 2024 Dokumentation 

Evaluationsbericht der Bundesregierung gem. Art. 107a EGInsO v. 12. 7. 2024 (BT-Drucks. 20/12250)

Nunmehr liegt der Evaluationsbericht der Bundesregierung zum Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschulbefreiungsverfahrens vor. Er wird im Folgenden im Volltext abgebildet. Das Editorial dieses Heftes befasst sich mit diesem Evaluationsbericht (Heyer, ZVI 2024, 365).

I. Einleitung

1. Evaluierungsauftrag

Mit dem zum 1. Oktober 2020 in Kraft getretenen Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3328) (nachfolgend: „Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz“) ist die reguläre Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens nach den
§§ 286 ff. der Insolvenzordnung (InsO) von ehemals sechs auf drei Jahre verkürzt worden. Nach Artikel 107a Absatz 1 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung (EGInsO) hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis zum 30. Juni 2024 zu berichten, wie sich die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern ausgewirkt hat. Zugleich sollen etwaige Hindernisse beleuchtet werden, die von der Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien für den wirtschaftlichen Neustart restschuldbefreiter Verbraucher ausgehen. Abhängig vom Ergebnis der Evaluierung sollen gesetzgeberische Maßnahmen vorgeschlagen werden (Artikel 107a Absatz 2 EGInsO).

2. Hintergrund und Zweck des Evaluierungsauftrags

Die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens war durch Vorgaben der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz vom 20. Juni 20191 (nachfolgend: „Richtlinie“) veranlasst. Nach Artikel 20 ff. der Richtlinie war sicherzustellen, dass sich unternehmerisch tätige Schuldner grundsätzlich binnen drei Jahren entschulden können. Das Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz ist darüber hinausgegangen und hat die Verfahrensdauer nicht nur für Unternehmer, sondern auch für Verbraucher verkürzt. Das war rechtspolitisch nicht unumstritten. Teilweise befürchtete man, dass die Verkürzung des Verfahrens dazu führen könnte, dass Verbraucher durch die erleichterten Möglichkeiten einer Entschuldung zu einem leichtfertigeren Umgang mit Schulden verleitet werden könnten. Um der unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie erwarteten Überschuldungswelle Rechnung zu tragen, sah der Regierungsentwurf zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz zwar auch eine Verfahrensverkürzung für Verbraucher vor, befristete die Regelung aber bis zum 1. Juli 2025 (Artikel 5 bis 8 des Regierungsentwurfs)2. Die auf der Grundlage dieser befristeten Regelung gesammelten Erfahrungen sollten evaluiert werden, um den Gesetzgeber im Falle erkannten Handlungsbedarfs in den Stand zu setzen, noch in der 20. Legislaturperiode etwaig veranlasste Änderungen vornehmen zu können.3 Der im parlamentarischen Verfahren erfolgte Wegfall der Befristung hat an Anlass und Gegenstand des Evaluierungsauftrags nichts geändert; der Auftrag bezieht sich nun auf die Erfahrungen zum Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern, die auf der Grundlage der unbefristeten Regelung gemacht wurden.
Der zweite Teil des Evaluierungsauftrags bezieht sich auf etwaige Hindernisse, die von den bestehenden Möglichkeiten der Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien für einen wirtschaftlichen Neustart von Verbrauchern wie Unternehmern nach der Erteilung einer Restschuldbefreiung ausgehen. Dieser Auftrag versteht sich vor dem Hintergrund der im Referentenentwurf zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz noch vorgesehenen Höchstfrist für die Speicherung insolvenzbezogener Daten, welche ein Jahr nach Erteilung der Restschuldbefreiung nicht überschreiten sollte (§ 301 Absatz 5 InsO-RefE). Diese Regelung wurde nicht in den Regierungsentwurf übernommen und löste damit das Interesse an Erkenntnissen darüber aus, wie sich die Speicherung von insolvenzbezogenen Daten auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neustarts nach Erteilung der Restschuldbefreiung auswirkt.

3. Wesentliche Ergebnisse

Anzeichen für negative Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern haben sich nicht feststellen lassen. Soweit sich relevante Daten überhaupt haben erheben lassen, bleibt deren Aussagekraft von vornherein durch zwei Faktoren eingeschränkt. Zum einen ist der Evaluationszeitraum für die Erhebung von Daten, welche Aufschluss über das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten geben können, knapp bemessen. Erste Restschuldbefreiungen im verkürzten Verfahren konnten frühestens im Oktober 2023 erteilt werden; eine systematische Erfassung des Zahlungs- und Wirtschaftsverhaltens der davon betroffenen Verbraucher für die Zwecke der im Juni 2024 abzuschließenden Evaluation war daher von Anfang an nicht möglich. Zum anderen ist der Evaluationszeitraum durch eine Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen gekennzeichnet, die geeignet sind, sich in besonderer Weise auf die finanzielle Situation von Verbrauchern auszuwirken und die deshalb der Verallgemeinerbarkeit jedweder empi-ZVI 2024, 401rischen Erkenntnis zum Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern die Grundlage entziehen. In den Evaluationszeitraum fallen unter anderem: die Auswirkungen und Spätfolgen der COVID-19-Pandemie, die binnen- und weltwirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine, die Störungen weltweiter Lieferketten und deren Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft, die Vervielfachung der Inflationsrate sowie die signifikanten Anhebungen des Zinsniveaus. Mangels Anhaltspunkten für Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten besteht derzeit kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
Die zweite Evaluierungsfrage zu den Auswirkungen der Speicherung insolvenzbezogener Daten durch Auskunfteien auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neustarts hat zu wesentlichen Teilen durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Dezember 2023 – C-26/22 und C-64/22 – ihre Erledigung gefunden. Hiernach sind Auskunfteien nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gehalten, aus öffentlichen Registern gewonnene insolvenzbezogene Daten nicht über die für das öffentliche Register geltende Speicherhöchstfrist hinaus zu speichern. Da diese Speicherfrist derzeit sechs Monate beträgt (§ 3 Absatz 1 und 2 der Verordnung zu öffentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren und Restrukturierungssachen im Internet (InsBekV)), geht die heutige Rechtslage weit über den gesetzgeberischen Plan des Referentenentwurfs zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz hinaus, der eine einjährige Speicherhöchstfrist vorgesehen hatte. Soweit ersichtlich und vom Verband „Die Wirtschaftsauskunfteien e. V.“ bestätigt, haben die Auskunfteien ihre Speicherpraxis an diese Rechtslage angepasst. Vor diesem Hintergrund besteht in Bezug auf das Anliegen, den wirtschaftlichen Neustart der Schuldner gegen Beeinträchtigungen abzusichern, die aus der Verfügbarkeit insolvenzbezogener Daten bei Auskunfteien herrühren, derzeit ebenfalls kein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

II. Grundlagen der Evaluation

Eine wesentliche Grundlage für die Evaluation waren die vom Statistischen Bundesamt (Destatis) zusammengestellten Daten zum Antragsgeschehen, welche insbesondere der bei Destatis geführten Datenbank GENESIS-Online (Tabellen 52411-0032 und 52411-0082) sowie der Datenerhebung der Länder aus der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Zivilsachen (ZP-Statistik) entnommen wurden. Zudem liegen der Evaluation schriftliche Stellungnahmen zugrunde, die im Rahmen einer schriftlichen Anhörung der betroffenen Fachkreise durch die folgenden Institutionen und Verbände eingereicht wurden:
  • Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV),
  • Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e. V. (BAG-SB),
  • Bundesarbeitskreis der Insolvenz- und Restrukturierungsgerichte e. V. (BAKinso),
  • Deutscher Anwaltverein (DAV),
  • Die Deutsche Kreditwirtschaft,
  • Die Wirtschaftsauskunfteien e. V.,
  • Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e. V. (VID),
  • Institut für Finanzdienstleistungen e. V. (iff),
  • Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen,
  • Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz,
  • Verbraucherzentrale Sachsen.
Den Untersuchungen zur zweiten Evaluierungsfrage nach den Hindernissen, die von der Möglichkeit der Speicherung insolvenzbezogener Daten durch Auskunfteien auf den wirtschaftlichen Neustart nach der Erteilung der Restschuldbefreiung ausgehen, wurden im Wesentlichen zugrunde gelegt:
  • das Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 7. Dezember 2023 in den verbundenen Rechtssachen C-26/22 und C-64/22 betreffend die Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 267 AEUV des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 23. Dezember 2021 und 31. Januar 2022 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie zur Speicherdauer von Daten aus einem öffentlichen Register im Zusammenhang mit der Restschuldbefreiung (ECLI:EU:C:2023:958)4,
  • die diesbezüglichen Ausführungen in den oben genannten Stellungnahmen,
  • die einschlägigen Veröffentlichungen in den juristischen Fachzeitschriften.

III. Erkenntnisse zum Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten

1. Entwicklung der Antragszahlen

Die Stellung von Anträgen auf Erteilung von Restschuldbefreiung wird weder nach dem Insolvenzstatistikgesetz (InsStatG) noch nach der Anordnung über die Erhebung statistischer Daten in Zivilsachen (ZP-Statistik) statistisch erfasst. Erfasst werden allein die Anträge auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Das Antragsgeschehen lässt sich aber auf der Grundlage der Insolvenzantragszahlen nachzeichnen. Da der Antrag auf Erteilung einer Restschuldbefreiung nach Maßgabe des § 287 Absatz 1 Satz 1 und 2 InsO mit dem Insolvenzantrag zu verbinden ist und in aller Regel auch verbunden wird, kann die Zahl der Insolvenzanträge als Indikator für die Zahl der Restschuldbefreiungsanträge herangezogen werden. Dabei wird angenommen, dass die Unschärfen, die durch die Möglichkeit ins Spiel kommen, dass ein Restschuldbefreiungsantrag im Einzelfall nicht rechtzeitig gestellt worden ist, vernachlässigt werden können.
Die Zahl der von Verbrauchern gestellten Insolvenzanträge war im Vorfeld des Inkrafttretens des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes zur Jahreswende 2020/21 tendenziell rückläufig. Wurden für das Jahr 2010 noch insgesamt 108.798 beantragte Verbraucherinsolvenzverfahren erfasst, sank die Zahl in den Folgejahren kontinuierlich auf 62.632 Verfahren im Jahr 2019. Im Laufe des Jahres 2020 setzte sich der Antragsrückgang fort. Die monatlichen Antragszahlen sanken von 5.453 im Januar 2020 auf 1.214 im September 2020, um bis Dezember 2020 wie-ZVI 2024, 402der leicht auf 2.633 anzusteigen und sich für das Gesamtjahr 2020 auf 41.753 zu summieren. Nach dem Inkrafttreten des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes im Dezember 2020 erhöhten sich die Antragszahlen sprunghaft. Im ersten Quartal des Jahres 2021 wurden im Januar 5.113, im Februar 7.776 und im März 9.797 Anträge gestellt. Zwischen April und Juli 2021 bewegten sich die Zahlen der monatlich beantragten Verfahren zwischen 6.438 (April 2021) und 7.164 (Juli 2021). Seither oszillieren die monatlichen Zahlen zwischen 5.100 und 6.100 Verfahren – mit wenigen und dabei unauffälligen Ausreißern nach oben (November 2021: 6.231, März 2022: 6.439, März 2023: 6.195) und unten (Oktober 2022: 5.041, April 2023: 4.906).
Die monatsweise Entwicklung der Antragszahlen im Zeitraum vom Januar 2017 bis März 2024 kann der als Anlage beigefügten Tabelle entnommen werden.

2. Entwicklung des Zahlungs- und Wirtschaftsverhaltens

Zum Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten ließen sich keine statistisch belastbaren Erkenntnisse gewinnen.
Die im Rahmen der schriftlichen Anhörung übermittelten Stellungnahmen gehen mehrheitlich davon aus, dass sich derzeit kaum belastbare Aussagen zu den möglichen Auswirkungen der Verfahrensverkürzung auf das Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten treffen lassen. Geltend gemacht wurde zum einen, dass der für die Erhebung von Daten zur Erfassung des Verbraucherverhaltens zur Verfügung stehende Zeitraum derzeit und bis auf Weiteres nicht ausreichend ist, um hinreichend belastbares Datenmaterial zu gewinnen. Zum anderen wurde geltend gemacht, dass das Verbraucherverhalten und die finanzielle Situation von Verbrauchern durch
Faktoren beeinflusst worden sind, die von der Verfahrensverkürzung unabhängig sind und wirksam geworden wären, wenn man die Verfahrensverkürzung hinwegdenkt. Ganz überwiegend werden jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass sich die Verfahrensverkürzung auf das Verbraucherverhalten ausgewirkt hat. Soweit für den Evaluationszeitraum Veränderungen im Verbraucherverhalten in Betracht gezogen werden, werden sie entweder als nicht signifikant eingestuft oder auf die Folgen der COVID-19-Pandemie und die gestiegenen Lebenshaltungskosten zurückgeführt. Eine Stellungnahme hat ausgeführt, dass sich in der Praxis der Schuldnerberatung erwiesen habe, dass Verbraucher von der Verfahrensverkürzung oftmals gar nicht wüssten; unter Verbrauchern sei die Annahme nicht unverbreitet, dass nach wie vor eine sechs- oder gar siebenjährige Laufzeit zur Erlangung einer Restschuldbefreiung gelte.
Einige Stellungnahmen gingen auf den sprunghaften Anstieg der Antragszahlen im Jahr 2021 ein und erklärten diesen damit, dass Privatpersonen im Jahr 2020 mit der Antragstellung bis zum Inkrafttreten des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes zugewartet haben, um sich in den Vorteil der verkürzten Verfahrensdauer zu bringen. Insoweit handele es sich um einen Nachholeffekt, mit dem die unterdurchschnittlichen Antragszahlen im Jahr 2020 kompensiert worden seien.
Eine Stellungnahme führte aus, dass sich die Zahl der Fälle gehäuft habe, in denen Schuldner, denen bereits unter altem Recht Restschuldbefreiung gewährt worden sei, eine erneute Restschuldbefreiung anstreben. Eine weitere Stellungnahme machte geltend, dass Schuldner in Restschuldbefreiungsverfahren nach neuen Recht in etwa 6 Prozent der Fälle in Zahlungsrückstand geraten. Zudem seien derzeit die in Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren erlangbaren Befriedigungsquoten mit 1,8 Prozent ausgesprochen niedrig.

3. Auswertung des vorliegenden Materials

Der signifikante Antragsrückgang im Jahr 2020 und der sprunghafte Anstieg im ersten Quartal des Jahres 2021 lassen sich, wie die im Rahmen der schriftlichen Anhörung abgegebenen Stellungnahmen bestätigt haben, mit der schon im Gesetzgebungsverfahren erkennbar gewordenen Neigung der Schuldner und deren Beratungsstellen erklären, im Jahr 2020 mit der Stellung von Anträgen bis zum Inkrafttreten des Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetzes zuzuwarten, um in den Genuss der Verfahrensverkürzung zu kommen. Die Entwicklung der Antragszahlen seit Anfang des Jahres 2022 gibt keinen Hinweis darauf, dass Verbraucher vermehrt oder systematisch von der Möglichkeit einer Restschuldbefreiung Gebrauch machen wollen. Vielmehr bewegen sich die Zahlen weitgehend konstant auf dem Niveau von 2018 und 2019. Anhaltspunkte für eine dauerhafte oder strukturell bedingte wachsende Nachfrage nach Entschuldungen, die sich als Ausdruck einer ausbreitenden Sorglosigkeit von Verbrauchern in Finanzfragen interpretieren ließe, sind hiernach nicht ausmachbar.
Aber auch sonst ist nicht erkennbar, dass sich die Verfahrensverkürzung wesentlich auf das Wirtschafts- und Zahlungsverhalten ausgewirkt hat. Aus den in einer Stellungnahme geltend gemachten Zahlungsausfällen von Schuldnern in noch laufenden Verfahren folgt ohne weiteres nichts, was zur Beantwortung der Leitfrage taugt. Ergiebig könnte der Befund nur dann sein, wenn sich erweisen ließe, dass sich die Zahlungsausfälle im Vergleich zur früheren Rechtslage signifikant mehren; und auch dann käme es auf Art und Ausmaß der Zahlungsverzüge an. Zweifelhaft ist sodann die Ergiebigkeit des in einer anderen Stellungnahme geltend gemachten Befunds, dass unter den Schuldnern, die seit dem Jahr 2020 den Weg in das Restschuldbefreiungsverfahren suchen, vermehrt Schuldner zu finden sind, denen bereits Restschuldbefreiung erteilt worden ist. Ergiebig könnte dieser Befund allenfalls dann sein, wenn der relative Anteil der Schuldner mit bereits erlangter Restschuldbefreiung im Vergleich zur Situation unter dem alten Recht wachsen würde. Vor allem aber hat das Gesetz für den Fall eines zweiten Restschuldbefreiungsverfahrens nach bereits erteilter Restschuldbefreiung in Gestalt einer elfjährigen Sperrfrist eine Vorkehrung getroffen, deren Wirksamkeit sich frühestens 14 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes beurteilen lassen wird.
Im Rahmen der Anhörung ist überwiegend die Einschätzung zum Ausdruck gebracht worden, dass sich das neue Recht nicht oder nicht signifikant auf das Verhalten der Verbraucher ausgewirkt hat oder dass sich Auswirkungen mit Blick auf die Kürze des Evaluationszeitraums und die vielfältigen Sondereffekte gar nicht messen lassen. Da diese Effekte – neben den Folgen der COVID-19-Pandemie und dem Anstieg der Lebenshaltungskosten wären der Anstieg der Energiepreise und die Erhöhung des Zinsniveaus zu nennen – fraglos einen erheblichen Einfluss auf die Privathaushalte, deren Finanzsituation und Wirt-ZVI 2024, 403schaftsverhalten haben, erscheint es derzeit gar nicht möglich, den Einfluss der Verfahrensverkürzung auf das Verbraucherverhalten zu bestimmen.

IV. Speicherung insolvenzbezogener Informationen durch Auskunfteien

Die Frage zu den Auswirkungen der Speicherung insolvenzbezogener Daten durch Auskunfteien auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Neustarts der betroffenen Personen hat zu wesentlichen Teilen durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Dezember 2023 in den verbundenen Rechtssachen C-26/22 und C-64/22 ihre Erledigung gefunden. Hiernach sind Auskunfteien nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a DSGVO gehalten, aus öffentlichen Registern gewonnene insolvenzbezogene Daten nicht über die für das öffentliche Register geltende Speicherhöchstfrist hinaus zu speichern. Da die Speicherfrist für Daten aus Insolvenz- und aus Restschuldbefreiungsverfahren derzeit gemäß § 3 Absatz 1 und 2 InsBekV sechs Monate beträgt, geht die heutige Rechtslage bereits weit über den gesetzgeberischen Plan des Referentenentwurfs zum Restschuldbefreiungsverkürzungsgesetz hinaus. Dieser hatte rücksichtlich der Widerrufsmöglichkeiten nach § 303 InsO eine einjährige Speicherhöchstfrist vorgesehen. Soweit ersichtlich und wie vom Verband „Die Wirtschaftsauskunfteien e. V.“ bestätigt, haben die Auskunfteien ihre Speicherpraxis umgehend an die neue Rechtslage angepasst. Vor diesem Hintergrund ist in Bezug auf das damalige Anliegen des Gesetzentwurfs, den wirtschaftlichen Neustart der Schuldner gegen Beeinträchtigungen aus einer langen Verfügbarkeit insolvenzbezogener Daten bei privaten Auskunfteien zu schützen, kein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf mehr gegeben.

V. Anregung weiterer Anpassungen aus der durchgeführten Anhörung

Mehrere Stellungnahmen haben die Evaluation zum Anlass genommen, zum Restschuldbefreiungsrecht sowie überhaupt zum Privatinsolvenzrecht Stellung zu nehmen und Vorschläge zu dessen Fortentwicklung zu unterbreiten. Die Vorschläge zielen insbesondere auf:
  • die Ausweitung und Verbesserung des Beratungsangebots und die Einbeziehung von Freiberuflern, Solo- und Kleinselbstständigen;
  • eine Vereinfachung der Antragsformulare und verbesserte Verständlichkeit der Erläuterungstexte;
  • die Bindung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahrens an einen Antrag des Schuldners;
  • die Beschränkung von Forderungsanmeldungen, -prüfungen und -feststellungen auf massehaltige Verbraucherinsolvenzverfahren;
  • die Einführung einer dreimonatigen Ausschlussfrist für Forderungsanmeldungen in Verbraucherinsolvenzverfahren sowie einer Frist für Feststellungsklagen der Gläubiger;
  • die Lösung der Verstrickung von massezugehörigen Forderungen aus einer vorausgegangenen Einzelzwangsvollstreckung;
  • die Eingrenzung der von der Restschuldbefreiung nach § 302 InsO ausgenommenen Forderungen sowie Klarstellungen zum Anwendungsbereich dieser Vorschrift;
  • die statistische Erfassung erneuter Antragstellungen nach Ablauf der Sperrfrist, um Regelungsnotwendigkeiten zur Aufdeckung und Vermeidung strategisch wiederkehrender Anträge („Drehtür-Effekte“) zu prüfen;
  • die Schließung von Regelungslücken im Bereich der Sperrfristen nach § 287a InsO;
  • die Vereinheitlichung der Versagungsgründe zur Erteilung einer Restschuldbefreiung während des Insolvenzverfahrens und in der Wohlverhaltensphase;
  • die Erstreckung der nach der EuGH-Rechtsprechung von den Auskunfteien anerkannten Rechtslage zu den insolvenzbezogenen Speicherfristen auf Informationen über außergerichtliche Einigungen und einvernehmliche Schuldbefreiungen sowie die Schaffung einer umfassenden gesetzlichen Regelung zur Speicherdauer und zum Löschungsanspruch im Lichte der EuGH-Rechtsprechung.
Die Prüfung dieser Vorschläge, welche weit über den Gegenstand des Evaluierungsauftrags hinausgehen, war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Evaluationsberichts noch nicht abgeschlossen. Sollte sich im Zuge dieser Prüfung ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergeben, wird das Bundesministerium der Justiz geeignete Vorschläge erarbeiten.

Anlage

Tabelle: Insolvenzverfahren (Verbraucher): Deutschland, Beantragte Verfahren, Monate
Jahr/Monat
eröffnet
mangels Masse abgewiesen
Schuldenbereinigungsplan angenommen
Insgesamt
2017
 
 
 
 
Januar
5.464
23
148
5.635
Februar
5.531
27
121
5.679
März
6.646
24
151
6.821
April
5.367
24
115
5.506
Mai
6.160
20
150
6.330
Juni
5.935
14
137
6.086
Juli
5.886
17
144
6.047
August
6.050
25
178
6.253
September
5.436
24
123
5.583
Oktober
5.669
17
134
5.820
November
6.366
23
164
6.553
Dezember
5.450
18
115
5.583
 
 
 
Gesamt:
71.896
2018
 
 
 
 
Januar
5.688
29
148
5.865
Februar
5.288
19
143
5.450
März
5.585
26
141
5.752
April
5.429
15
140
5.584
Mai
5.399
50
125
5.574
ZVI 2024, 404
Juni
5.869
39
115
6.023
Juli
5.844
67
114
6.025
August
5.518
60
138
5.716
September
5.040
44
128
5.212
Oktober
5.433
52
109
5.594
November
5.684
54
123
5.861
Dezember
4.787
49
105
4.941
 
 
 
Gesamt:
67.597
2019
 
 
 
 
Januar
5.649
74
145
5.868
Februar
4.996
49
106
5.151
März
5.435
41
105
5.581
April
5.323
41
114
5.478
Mai
5.507
44
108
5.659
Juni
4.863
36
121
5.020
Juli
5.600
46
114
5.760
August
5.082
41
116
5.239
September
4.866
32
110
5.008
Oktober
5.124
34
110
5.268
November
4.687
16
89
4.792
Dezember
3.700
12
96
3.808
 
 
 
Gesamt:
62.632
2020
 
 
 
 
Januar
5.303
22
128
5.453
Februar
4.730
10
83
4.823
März
4.707
13
99
4.819
April
3.192
13
78
3.283
Mai
4.220
21
94
4.335
Juni
5.179
15
85
5.279
Juli
3.908
24
92
4.024
August
1.706
20
92
1.819
September
1.107
16
90
1.214
Oktober
1.775
9
73
1.857
November
2.121
7
86
2.214
Dezember
2.554
8
71
2.633
 
 
 
Gesamt:
41.753
2021
 
 
 
 
Januar
5.045
13
55
5.113
Februar
7.706
5
65
7.776
März
9.710
17
70
9.797
April
6.368
14
56
6.438
Mai
6.077
20
62
6.159
Juni
6.930
19
72
7.021
Juli
7.079
23
62
7.164
August
5.700
23
56
5.779
September
5.961
29
71
6.061
Oktober
5.902
20
59
5.981
November
6.133
24
74
6.231
Dezember
6.004
30
66
6.100
 
 
 
Gesamt:
79.620
2022
 
 
 
 
Januar
5.131
21
69
5.221
Februar
5.296
18
60
5.374
März
6.344
34
61
6.439
April
5.102
13
53
5.168
Mai
5.822
17
58
5.897
Juni
5.593
17
63
5.673
Juli
5.234
20
50
5.304
August
5.302
20
61
5.383
September
5.376
12
50
5.438
Oktober
4.947
31
63
5.041
November
5.795
23
54
5.872
Dezember
5.545
24
49
5.618
 
 
 
Gesamt:
66.428
2023
 
 
 
 
Januar
5.252
22
47
5.321
Februar
5.097
18
45
5.160
März
6.141
17
37
6.195
April
4.846
17
43
4.906
Mai
5.616
24
39
5.679
Juni
5.821
18
40
5.879
Juli
5.608
21
39
5.668
August
5.785
14
44
5.843
September
5.309
18
40
5.367
Oktober
5.569
18
44
5.631
November
5.741
30
40
5.811
Dezember
5.367
14
46
5.427
 
 
 
Gesamt:
66.887
2024
 
 
 
 
Januar
5.589
27
39
5.655
Februar
5.731
29
35
5.795
März
5.975
24
29
6.028
Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Datenbank GENESIS-Online, Tabellen 52411-0032 und 52411-0082, zuletzt abgerufen am 24. Juni 2024
1
1)
Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. L 172 vom 26. 6. 2019, S. 18).
2
2)
Vgl. Bundestagsdrucksache 19/21981, Seite 11 ff.
3
3)
Vgl. Bundestagsdrucksache 19/21981, Seite 24.
4
4)
Veröffentlicht unter https://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?num=C-26/22&language=DE.

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