ZVI 2017, 329

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2017 Editorial 

Hurra, hurra, die ersten Dreijährigen sind da!

Der „neue“ § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO in der gerichtlichen Praxis – ein Lagebericht

Die Reform des Privatinsolvenzrechts 2014 ist mittlerweile schon mehr als drei Jahre mit uns. Das Reformgesetz trägt den Namen „Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte“, kurz vielfach auch „Verkürzungsgesetz“ genannt. Im Fokus der gesamten Reform stand seinerzeit die Möglichkeit für den Schuldner, vorzeitig – nämlich nach drei Jahren – Restschuldbefreiung zu erlangen. Ob dies überhaupt möglich sein soll, und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen – darüber wurde seinerzeit lange und heftig gestritten. Im Kern ging es dabei um die Frage, welcher Anteil an den Verbindlichkeiten des Schuldners gedeckt sein muss. 25 % hieß es zunächst. Dann waren es auf einmal 30 %. Herausgekommen sind dann am Ende bekanntlich 35 %.
Kaum war das Gesetz zum 1. 7. 2014 in Kraft getreten, begann auch schon die Stunde der Skeptiker. Im eröffneten Verfahren könne die Vorschrift jedenfalls dann nicht funktionieren, wenn Drittmittel zur Verfügung gestellt werden sollten. Denn sämtliche Drittmittel, die in die Masse eingezahlt würden, erhöhten die Berechnungsgrundlage, so dass ein grotesker Wettlauf um die Quote beginne. Und außerdem sei der Schuldner in einem solchen Fall mit einem Insolvenzplan viel besser bedient: Er müsse weder drei Jahre warten noch müsse er eine Mindestquote erreichen, also sei der Insolvenzplan nicht nur besser, sondern auch viel schneller. Etwas überspitzt könnte man formulieren: § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO war gewissermaßen schon tot, bevor er überhaupt in Kraft getreten, geschweige denn zur Anwendung gekommen war.
Aber stimmt das? Am 1. 7. 2017 war es so weit: Schuldner, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Reform eröffnet worden ist, haben die Möglichkeit, in den Genuss des auf drei Jahre verkürzten Restschuldbefreiungsverfahrens zu kommen. Grund genug, bei den Rechtspflegern und Geschäftsstellen des Insolvenzgerichts Hamburg einmal nachzufragen. Und siehe da, es gibt sie, die „Dreijährigen“, und zwar viel öfter, als man dachte. Insgesamt wurde von etwa 20 Verfahren berichtet, bei denen die vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung in den nächsten Monaten anstehe. Richtig ist, dass jedenfalls beim Insolvenzgericht Hamburg zurzeit kein Fall bekannt ist, in dem diese Möglichkeit besteht, wenn sich das Verfahren noch im Stadium des eröffneten Verfahrens befindet. Die allermeisten Verbraucherinsolvenzverfahren und auch ein Großteil der Privatinsolvenzen, die als Regelinsolvenzverfahren betrieben werden, befinden sich aber nach drei Jahren längst in der Wohlverhaltensphase.
ZVI 2017, 330
Einer geht so: Die Schuldnerin Tanja Schiller (Name geändert) beantragte am 31. 7. 2014 die Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens über ihr Vermögen. Außerdem stellte sie einen Antrag auf Erteilung der Restschuldbefreiung. Schließlich stellte sie einen Stundungsantrag. In der Anlage 4 gemäß VerbrInsFV gab die 1982 geborene Schuldnerin an, über ein Guthaben i. H. v. 503 € sowie über monatliche Nettoeinkünfte i. H. v. ca. 1.250 € zu verfügen. Die Summe ihrer Gesamtverbindlichkeiten, die sich auf zwei Gläubiger verteilten, betrug angabegemäß ca. 11.800 €.
Das Insolvenzverfahren wurde am 5. 8. 2014 eröffnet. In ihrem ersten Verwalterbericht vom 20. 10. 2014 führte die Insolvenzverwalterin u. a. aus, dass die Schuldnerin tatsächlich über monatliche Nettoeinkünfte i. H. v. ca. 1.420 € verfüge, wovon monatlich pfändbar 136 € seien. Da weiteres Vermögen nicht vorhanden sei, betrage der Massebestand, der ausschließlich aus dem pfändbaren Teil der Einkünfte gespeist worden sei, 6 x 136 €, mithin 816 €. Die Insolvenzverwalterin erwarte einen Abschluss des Insolvenzverfahrens innerhalb von sechs Monaten. Im schriftlichen Prüfungstermin, der am 14. 11. 2014 stattfand, wurden die von den beiden Gläubigern angemeldeten Forderungen in voller Höhe zur Tabelle festgestellt. Ihren Schlussbericht reichte die Insolvenzverwalterin dann am 5. 5. 2015 ein. Sie berichtete, dass der Massebestand mittlerweile 3.306 € betrage und sich aus dem pfändbaren Anteil der Einkünfte sowie einer Steuererstattung i. H. v. ca. 350 € zusammensetze. Hiervon könnten die Kosten des Verfahrens, die die Insolvenzverwalterin auf insgesamt 2.116 € bezifferte, gedeckt werden. Für die Wohlverhaltensphase sei ein Betrag von 476 € zurückzustellen, so dass eine Verteilungsmasse von 714 € verbleibe. Hieraus errechne sich eine Schlussquote von 5,94 %. Am 7. 7. 2015 fand dann der schriftliche Schlusstermin statt. Mit Beschluss vom 29. 9. 2015 schließlich wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.
Alles in allem handelt es sich um ein völlig unspektakuläres Verbraucherinsolvenzverfahren, wie es bei den meisten Insolvenzgerichten in Deutschland andauernd vorkommen dürfte. In diesem Verfahren ist wirklich rein gar nichts passiert, was in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht besonders bemerkenswert wäre. Die Masse besteht in diesem Verfahren – sieht man von der geringfügigen Steuererstattung ab – ausschließlich aus pfändbaren Einkünften der Schuldnerin. Und gleichwohl – und das ist dann doch äußerst interessant – wird die Schuldnerin in diesem unspektakulären Verfahren in den Genuss der vorzeitigen Restschuldbefreiung kommen. Und wenn dies in einem solchen Verfahren möglich ist, dann ist § 300 Abs. 1 InsO vielleicht doch nicht so schlecht…
Wie kam es nun zur vorzeitigen Erteilung der Restschuldbefreiung? Ausweislich des Berichts der Treuhänderin im ersten Tätigkeitsjahr der Restschuldbefreiungsphase vom 7. 10. 2016 belief sich die Verteilungsmasse mittlerweile auf 4.787 €. Hierzu teilte die Treuhänderin mit, dass die Verfahrenskosten vollständig gedeckt seien und dass mittlerweile Quotenzahlungen von 39 % erfolgt seien. Sie wies darauf hin, dass die Schuldnerin mit Ablauf von drei Jahren seit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Antrag auf vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung stellen könne. Das Insolvenzgericht muss dann nach wohl ganz h. M. die Schuldnerin auf diese Möglichkeit hinweisen.
Fazit: Dass es in einem solchen Fall wie dem geschilderten zu einer vorzeitigen Erteilung der Restschuldbefreiung kommt, überrascht. Denn bis dato ist man doch überwiegend davon ausgegangen, dass § 300 Abs. 1 InsO nur in Konstellationen zur Anwendung gelangen könne, die durch vergleichsweise große und tendenziell überraschende Massezuflüsse gekennzeichnet sind, etwa bei einer Erbschaft oder bei einem in diesem Kontext als Kronzeuge oft aufgeführten Lottogewinn. Die Schuldnerin Tanja Schiller zeigt, dass diese Möglichkeit auch in ganz gewöhnlichen Verfahren besteht.
Dr. Andreas Schmidt

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