ZVI 2021, 281

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2021 EditorialStefan Saager

„Die Überschuldung von Verbrauchern ist wirtschaftlich und sozial äußerst bedenklich“

Haben Sie in den vergangenen anderthalb Jahren manchmal an staatlichen Maßnahmen zur Verminderung der Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie gezweifelt? Haben Sie sich vielleicht gefragt, ob alle Interessen bei der Entscheidungsfindung ausreichend und angemessen berücksichtigt worden sind? Mir ist es so ergangen. Auch wenn ich kein Experte bin – weder einer für Infektionskrankheiten noch einer für Pandemien und auch keiner für viele andere Fragen, die hier eine Rolle spielen –, habe ich eine Meinung. Ich bin allerdings auch froh, dass ich nicht die politische Verantwortung trage, die Entscheidungen über Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie treffen zu müssen.
Offensichtlich ist, dass die Coronavirus-Pandemie selbst und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung Folgen für uns alle haben: Auch abgesehen von einer Erkrankung treffen uns die Wirkungen unterschiedlich hart. Die „soziale Distanz“, die uns verordnet worden ist, gefällt dem einen oder anderen vielleicht sogar: etwas mehr Ruhe, nicht so viel Trubel wie sonst. Andere behindert die Einschränkung der persönlichen Begegnungen schwer, etwa beim Erwachsenwerden, zum Beispiel bei der Schulbildung oder Berufsausbildung. Zum Erwachsenwerden gehört viel mehr, als nur (Aus-)Bildung, sie ist aber das Fundament für die finanzielle Zukunft junger Menschen. Mancher, der schon erwachsen und schon berufstätig ist, ist wirtschaftlich kaum oder gar nicht betroffen; viele andere büßen – als Angestellte oder Selbstständige – ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage ein; diese platzen wie Seifenblasen.
Kürzlich war in in dieser Zeitschrift von der Herzlosigkeit in Zeiten der Pandemie zu lesen (Grote, ZVI 2021, 171 zu der Entscheidung LG Dresden ZVI 2021, 127: Pfändbarkeit eines steuerfreien „Corona-Bonus“ für einen Paketzusteller). Mit Gerichtsentscheidungen verhält es sich ähnlich wie mit staatlichen Maßnahmen und Entscheidungen zur Verminderung der Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie. Man mag sie als herzlos empfinden, was sie aber nicht schon deswegen falsch macht. Kritik an beidem – an Gerichtsentscheidungen und staatlichen Maßnahmen – kann man gleichermaßen an der ihnen zugrunde liegenden Herzlosigkeit und an sachlichen Argumenten äußern, wie es auch in dieser Zeitschrift in dem Beitrag über die Entscheidung des LG Dresden zu lesen war, in dem übrigens nicht das Ergebnis der Entscheidung, also die Pfändbarkeit des „Corona-Bonus“, sondern, „die Belastungen eines Paketzustellers in der Pandemie nicht als außergewöhnlich zu qualifizieren“, als „lebensfremd und herzlos“ bezeichnet worden ist.
So mag der Paketbote es als herzlos empfinden, dass ihm der „Corona-Bonus“ gepfändet wird. Trotz seiner sicherlich nicht einfachen Arbeitsbedingungen wird er sich im Vergleich zu den vielen Angestellten und Selbstständigen, die ihr Einkommen aufgrund der Pandemiesituation ganz oder zum großen Teil eingebüßt haben, in mehrfacher Hinsicht glücklich schätzen können: Glücklich, dass er einen „pandemiesicheren“ Arbeitsplatz in der Paketbranche hat, glücklich, dass sein Arbeitgeber ihm einen Bonus gezahlt und der Staat diesen Bonus steuerfrei gestellt hat, und schließlich glücklich, dass er dadurch seine Schulden reduzieren konnte.
Wie viel schwerer andere von der Pandemie betroffen sind, zeigt die Entwicklung der Zahl der Insolvenzverfahren. Während die Zahl der Anträge auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bei Unternehmensinsolvenzen weiterhin ZVI 2021, 282angesichts der schon lange anhaltenden Krise erstaunlich niedrig ist – das Statistische Bundesamt meldet (Pressemitteilung Nr. 270 vom 10. Juni 2021) 19,7 % weniger Anträge im ersten Quartal 2021 als im ersten Quartal 2020, dem letzten Vorkrisenquartal – stieg die Zahl der Verbraucherinsolvenzen im Vergleich zum ersten Quartal 2020 deutlich um mehr als die Hälfte, nämlich um 50,3 % (Statistisches Bundesamt, a. a. O.).
Nun mag es viele Gründe für die stark gestiegene Zahl der Verbraucherinsolvenzen geben. Unabhängig von der wirtschaftlichen Lage, dürfte ein ganz wesentlicher Grund, den auch das Statistische Bundesamt in der Erläuterung der ermittelten Zahlen nennt, das Inkrafttreten des Gesetzes zur schrittweisen Verkürzung von Restschuldbefreiungsverfahren – oder besser die Rückwirkung dieses Gesetzes – zum 1. 10. 2020 sein (BGBl I 2020, 3328). Es ist zu vermuten, dass einige Schuldner das Inkrafttreten des am 30. 12. 2020 im Bundesgesetzblatt verkündeten Gesetzes abgewartet haben oder nunmehr angesichts der verkürzten Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens erstmals eine Insolvenz als einen Bestandteil der Lösung ihrer finanziellen Probleme in Betracht ziehen.
In der europäischen Richtlinie, die den Anstoß für eine Reform des Restschuldbefreiungsverfahrens, insbesondere eine Verkürzung des Verfahrens, in Deutschland gegeben hat, heißt es, die Überschuldung von Verbrauchern sei wirtschaftlich und sozial äußerst bedenklich (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz (Richtlinie (EU) 2019/1023), Erwägungsgrund 21). Insbesondere die Möglichkeit der Restschuldbefreiung, die mit der Insolvenzrechtsreform 1999 in das deutsche Recht eingeführt worden ist, hat eine enorme Bedeutung für die Betroffenen und unsere Gesellschaft insgesamt. Sie bietet einen Ausweg, wenn andere Wege der Entschuldung hoffnungslos sind.
Unter Geltung der Konkursordnung waren – wegen der hohen Mehrheitsanforderungen und dem Erfordernis einer Mindestquote – die Möglichkeiten, einem unbeschränkten Nachforderungsrecht der Gläubiger im Anschluss an ein Insolvenzverfahren zu entgehen (früher § 164 KO, jetzt § 201 Abs. 1 InsO), ohne praktische Bedeutung. Seit Einführung der Restschuldbefreiung sind die Voraussetzungen für Schuldner, eine Restschuldbefreiung zu erlangen, immer weiter gesenkt worden. Für die Gläubiger sind die Befriedigungsquoten von zumeist null oder nahe null bitter, denn die Restschuldbefreiung bedeutet für sie, dass sie Leistungen gegenüber dem Schuldner unentgeltlich erbracht, oder noch schwerwiegender, unentgeltlich an den Schuldner geliefert haben, was sie ihrerseits bezahlen mussten, oder Geld geliehen haben, das sie nun nicht zurückbekommen. Man darf nicht vergessen: Die jeweiligen Gläubiger bezahlen die Restschuldbefreiung, die allen – den betroffenen Schuldnern voran – zugutekommt.
Die Alternative – also ein Insolvenzverfahren ohne die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung – hätte allerdings schwerwiegende gesellschaftliche und persönliche Konsequenzen. Die Aussichtslosigkeit, die bestehenden Schulden jemals begleichen zu können, würde keinen Anreiz für eine legale Erwerbstätigkeit bieten, allenfalls den Anreiz für Schwarzarbeit erhöhen. Dem Schuldner bliebe stets nur der pfändungsfreie Anteil des Einkommens.
Eine Überschuldung ist niemandem zu wünschen. Allen Überschuldeten ist jedoch eine gute Schuldnerberatung zu wünschen, die ihnen Mut gibt, die Chance auf einen finanziellen Neubeginn nicht hinauszuschieben und sich nicht hinter dem Pfändungsschutz „zu verstecken“. Wer wirklich überschuldet ist und nicht nur vorübergehende Zahlungsschwierigkeiten hat, dem bietet das Restschuldbefreiungsverfahren eine Chance und macht es ihm nicht (mehr) besonders schwer, Verantwortung für sich, seine Familie und seine zukünftigen Gläubiger wahrzunehmen. Ohne die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens für die betroffenen Schuldner und ihre Familien auszublenden, wird man mit der steigenden Zahl von Verbraucherinsolvenzverfahren auch die Hoffnung verbinden können, dass vielen Überschuldeten ein Neuanfang gelingen wird.
So ist auch dem Paketboten, von dem hier die Rede war, zu wünschen, dass er seine Verbindlichkeiten bald begleichen kann, und sich damit die Pfändung seines Arbeitseinkommens hoffentlich bald erledigt. Der steuerfreie „Corona-Bonus“ trüge dann dazu bei, seine Schulden schneller zu begleichen, und die Entscheidung über seine Pfändbarkeit wäre vielleicht juristisch falsch, aber im Ergebnis nicht herzlos. Sollte er hingegen überschuldet sein, wäre jetzt die Gelegenheit, ein Restschuldbefreiungsverfahren anzustreben – auch wenn er selbst und seine Gläubiger sich wahrscheinlich gleichermaßen gewünscht hätten, dass er seine Schulden durch Arbeitseinkommen hätte begleichen können. Der Ärger über die Pfändung des Corona-Bonus mag in diesem Fall den Anstoß geben. Ich hoffe, verehrte Leser, dass ich Ihnen nicht herzlos erscheine.
Rechtsanwalt Dr. Stefan Saager, Berlin

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