ZVI 2023, 273

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz ZVI 2023 EditorialStefan Saager

Zehn Jahre Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens – Gedanken zum Gleichheitsgrundsatz

In diesem Monat jährt sich der Beschluss des Deutschen Bundestages zum zehnten Mal, die Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens zu kürzen (Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. Juli 2013 (BGBl I 2013, 2379)). Im kommenden Jahr wird sich der Deutsche Bundestag erneut mit dem Restschuldbefreiungsverfahren und insbesondere mit dessen Dauer befassen. Die Bundesregierung soll dem Deutschen Bundestag nämlich bis zum 30. 6. 2024 berichten, wie sich die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens (gemeint ist hier allerdings die im Jahr 2020 beschlossene weitere Verkürzung) auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbrauchern ausgewirkt hat (§ 107a EGInsO). Eine passende Gelegenheit für einen Blick voraus und einen Blick zurück und für Überlegungen zum Gleichheitsgrundsatz.
Ein Verfahren, das es natürlichen Personen ermöglicht, ohne Zustimmung ihrer Gläubiger eine Restschuldbefreiung zu erlangen, ist erst mit dem Inkrafttreten der Insolvenzrechtsreform 1999 in das deutsche Recht eingeführt worden. Im Nachhinein kann man feststellen, dass die zeitliche Abfolge von Insolvenzverfahren und Restschuldbefreiungsverfahren bei Einführung der Insolvenzordnung nicht optimal geregelt war, wenngleich auch die heutige Rechtslage mit möglichen asymmetrischen Verfahren nicht problemlos ist. Die Abtretungsfrist betrug sieben Jahre und begann erst mit Aufhebung des Insolvenzverfahrens.
Dieser späte Beginn der Abtretungsfrist führte nicht nur bei lange dauernden Insolvenzverfahren zu erheblicher Verzögerung bei der Restschuldbefreiung, sondern auch zu einer erheblichen Ungleichbehandlung der Schuldner, die je nach Dauer des vorangehenden Insolvenzverfahrens früher oder später Restschuldbefreiung erlangten. Der Bundesgerichtshof (Beschl. v. 18. 7. 2013 – IX ZB 11/13, ZVI 2013, 450) griff korrigierend ein und legte die Regelung (§ 300 InsO a. F.) verfassungskonform im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz dahingehend aus, dass ein Schuldner zwölf Jahre nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens „unabhängig vom Verfahrensstand vorzeitig in den Genuss der Restschuldbefreiung kommen“ muss.
Inzwischen beginnt die Abtretungsfrist mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und dauert in der Regel nur drei Jahre (§ 287 Abs. 2 InsO). Die Restschuldbefreiung kann unter bestimmten Umständen – insbesondere dann, wenn keine Forderungen angemeldet worden sind oder die Insolvenzforderungen befriedigt worden sind (§ 300 Abs. 2 InsO) – auch schon früher erteilt werden.
Das Gesetz sah nach der Reform 2014 (siehe oben: Gesetz vom 15. 7. 2013) zunächst ein „Anreizsystem“ für die Verkürzung des Verfahrens vor: Bei Erfüllung einer bestimmten Befriedigungsquote oder nach Begleichung der Ver-ZVI 2023, 274fahrenskosten konnte Restschuldbefreiung schon vor Ablauf der sechsjährigen Abtretungsfrist nach drei oder nach fünf Jahren erlangt werden. Diese Elemente entfielen mit der Reform 2020 (Gesetz zur weiteren Verkürzung der Restschuldbefreiung vom 22. 12. 2020 (BGBl I 2020, 3328)), so dass die Regeldauer nun bedingungslos drei Jahre beträgt. Beide Gesetze waren zuvor kontrovers diskutiert worden, was dazu führte, dass beide Gesetze eine sog. Evaluierungsklausel enthielten.
Interessant ist, dass in beiden Fällen die Reform politisch durch die Förderung unternehmerisch Tätiger begründet worden war. Ausgangspunkt der Reform im Jahre 2014 war eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP, wonach das Restschuldbefreiungsverfahren verkürzt werden soll, um „Gründern“ zügig eine zweite Chance zu eröffnen. Die Reform im Jahre 2020 geht auf eine Europäische Richtlinie, die sog. Restrukturierungsrichtlinie (RL (EU) 2019/1023 v. 20. 6. 2019), zurück, in der festgestellt wurde (ErwG 5), in vielen Mitgliedstaaten dauere es „mehr als drei Jahre, bis zahlungsunfähige aber redliche Unternehmer sich entschulden und einen Neuanfang machen können“, weswegen (ErwG 75) die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, „dass […] die Möglichkeit für einen insolventen Unternehmer besteht, sich innerhalb eines Zeitraums von höchstens drei Jahren vollständig zu entschulden“ (s. Art. 21 der Richtlinie).
In beiden Fällen gaben vor allem politische Gründe den Ausschlag, die Verkürzung der Restschuldbefreiung ohne diese Unterscheidung auf alle natürlichen Personen anzuwenden. Im Regierungsentwurf aus dem Jahr 2012 (BT-Drucks. 17/11268, S. 13) wurde ausgeführt, dass „angesichts des erheblichen Risikos, das Gründer eingehen […] ein Bedürfnis [besteht], gescheiterten Unternehmern einen zügigen Neustart zu ermöglichen und Gründungen zu fördern, um so Mut zum Aufbruch in die Selbständigkeit zu machen“. Allerdings stellte die Bundesregierung auch klar: „Das Bedürfnis nach einem schnellen Neustart besteht gleichermaßen für alle natürlichen Personen.“ Sie begründete das insbesondere mit dem Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2010, wonach rund die Hälfte der von einer Insolvenz Betroffenen „Opfer moderner biographischer Risiken“ sind, wozu neben gescheiterter Selbstständigkeit „alltägliche Risiken“ wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Ehescheidung gezählt werden. Dass das eine – Förderung unternehmerischer Betätigung – und das andere – allgemeines Interesse von Schuldnern, möglichst schnell Restschuldbefreiung zu erlangen – nichts miteinander zu tun haben, ist offensichtlich. Die in der Gesetzesbegründung angeführten verfassungsrechtlichen Bedenken werden nicht weiter erläutert.
Die Bundesregierung hatte in ihrem Gesetzentwurf 2020 eine Befristung der Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens für Verbraucher, also für Schuldner, die keine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben, bis zum Jahr 2025 vorgesehen (BT-Drucks. 19/21981 (dort Artikel 5)). Diese Befristung wurde im parlamentarischen Verfahren unter Verweis auf das Ergebnis der Anhörung im Rechtsausschuss nicht in das Gesetz übernommen (vgl. BT-Drucks. 19/25322, S. 17 f.): Die Befristung sei in der Sachverständigenanhörung unter Hinweis auf die damit verbundene Ungleichbehandlung von Verbrauchern einerseits und unternehmerisch tätigen Schuldnern andererseits auf einhellige Ablehnung gestoßen. Unterschiedliche Entschuldungsfristen seien als verfassungsrechtlich problematisch und sachlich nicht nachvollziehbar bezeichnet worden. Bei einem Blick auf die Liste der zur Anhörung am 30. 9. 2020 eingeladenen Sachverständigen ist es kein Wunder, dass dort Interessen von Gläubigern und unternehmerisch tätigen Schuldnern nicht artikuliert worden sind.
Dabei liegt es auf der Hand, dass sich finanzielle Risiken auch für das Privatvermögen erheblich danach unterscheiden, ob jemand beruflich selbstständig tätig ist oder einer beruflich unselbstständigen Tätigkeit – als Angestellter oder gar Beamter – nachgeht. Unternehmer sind im Wirtschaftsverkehr einer deutlich komplexeren Marktlage ausgesetzt, da sie in eine Wertschöpfungskette eingebunden sind. Die dadurch erhöhte Gefahr einer Insolvenz für Unternehmer gegenüber Verbrauchern kann auch in Bezug auf das Restschuldbefreiungsverfahren eine Differenzierung zwischen diesen Personenkreisen rechtfertigen.
Abgesehen von diesem fehlerhaften Verständnis vom verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz – politisch ist die Gleichbehandlung von Verbrauchern und unternehmerisch tätigen Schuldnern durchaus vertretbar – wird in der Diskussion immer wieder unterschlagen, dass nicht der Staat, sondern im Wesentlichen die privaten Gläubiger mit dem erzwungenen Verzicht auf ihre Forderungen die Restschuldbefreiung bezahlen. Auch die Verkürzung der Restschuldbefreiung geht zulasten der Befriedigungsquote der Gläubiger. In der bereits erwähnten, von der Bundesregie-ZVI 2023, 275rung im Gesetzentwurf 2012 zitierten Studie wird auch berichtet, dass ein Drittel der sich in der Wohlverhaltensphase befindlichen Verbraucher Zahlungen zur Tilgung ihrer Schulden im dritten bis sechsten Jahr nach der Restschuldbefreiung leisteten.
Bei einem Blick voraus auf das Jahr 2024 kann man zum einen vorhersagen, dass jede Regierung sich schwertun wird, die Rechtslage für Verbraucher zu verschlechtern. Der Bericht der Bundesregierung müsste zum einen schon unerhörte Missstände zu Tage fördern, um eine Verlängerung des Restschuldbefreiungsverfahrens vorzuschlagen. Zum anderen kann man die Diskussion um die Förderung unternehmerischer Tätigkeit durch ein verkürztes Restschuldbefreiungsverfahren ebenfalls „abhaken“, denn um die ungleichen Schuldner auch in der Restschuldbefreiung ungleich zu behandeln, ist unter Berücksichtigung der grundgesetzlich relevanten Interessen der Gläubiger eine noch kürzere Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens nicht vertretbar; vielmehr müsste das Restschuldbefreiungsverfahren für Verbraucher verlängert werden. Es wird sich also 2024 nichts an der Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens ändern – weder für Verbraucher noch für unternehmerisch Tätige.
Bleiben Sie der ZVI gewogen. Hier werden Sie erfahren, ob meine Prognose zutrifft.
Rechtsanwalt Dr. Stefan Saager, Berlin

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