ZVI 2020, 241

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2020 EditorialUlrich Jäger

Abstand halten

Unser Land erlebt schwere Zeiten. Die Pandemie und deren Folgen sind allgegenwärtig. Gegenwärtig, wie auch die dringende Aufforderung von Politikern und Virologen: „Abstand halten“. Die Vernünftigen verhalten sich entsprechend, manche sehen die Abstandsgebote wie auch die übrigen Maßnahmen zum Schutze der Gemeinschaft als überbordend und verweigern sich. Unsere Gesellschaft hat sich der größten Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg zu stellen. Solidarisch, wobei der Politik, den Regierungen in Bund und Ländern, eine entscheidende, die schwierigste Rolle zukommt. Dies gilt insbesondere im Rahmen der nunmehr notwendigen gesetzlichen Bestimmungen.
Besondere Situationen erfordern besondere Regelungen. Der Notstand, den COVID-19 in unserem Lande ausgelöst hat, hat zu einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen geführt. Allen Regelungen gemein ist das Ziel, die Folgen der Pandemie abzudämpfen. Ein typisches Beispiel einer solchen Gesetzgebung ist das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht.
Erklärtes (wenn auch realistisch vielfach nicht erreichbares) Ziel der Regelung ist der Schutz derer, die wirtschaftlich unmittelbar von der Epidemie betroffen sind. Ein Kernstück ist die auf Antrag zu gewährende Soforthilfe in Höhe von 9.000 € zum Schutz von Kleinunternehmen vor wirtschaftlichen Problemen, insbesondere der Insolvenz. Wie jede gesetzliche Regelung, die unter Zeitdruck verabschiedet wurde, offenbart auch diese in der Praxis einige Unzulänglichkeiten, nur beispielsweise die Anfälligkeit für Missbrauch und eine fehlende Regelung zur Unpfändbarkeit dieser Soforthilfe.
Bei jeder noch so berechtigten Kritik sollte man auch hier, übertragend, die Regel „Abstand halten“ beachten, nicht sofort nach „Reparaturen“ rufen, sondern etwas Vertrauen in die Praxis setzen.
Im Nachhinein ist man stets klüger, doch gibt es keine gesetzliche Regelung, die einen Vorteil gewährt, die frei von der Gefahr des Missbrauchs ist. Dies ist nicht nur bei der „Corona-Gesetzgebung“ der Fall, auch die Bestimmungen der Insolvenzordnung zur Restschuldbefreiung lassen Lücken für unredliche Schuldner. Dies nimmt man hin – so sollte man es gerade auch bei einer Krisengesetzgebung sehen. Schaut man auf die Problematik bei der Frage der Pfändbarkeit (oder besser: Unpfändbarkeit) der Corona-Beihilfe, zeigt sich, wie zuverlässig und verantwortungsvoll die Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger der Vollstreckungsgerichte in der Praxis mit dieser „Regelungslücke“ umgehen. Die Berechtigung der Gewährung der Sofortbeihilfe dürfte sich ohnehin einer gerichtlichen Klärung entziehen, der Bescheid der zuständigen Behörde ist maßgeblich. So greift man beim regelmäßig auftretenden Pfändungsschutzantrag nach Überweisung der Hilfe auf das gepfändete Konto konsequent auf den § 765a ZPO zurück. Das Ergebnis ist allemal korrekt, lange Anhörungsverfahren lassen die Soforthilfe ins Leere laufen. Die Praxis handelt im Sinne des Geistes des Gesetzes.
Auch bei den gewiss nicht gerade seltenen Fällen, in denen die Soforthilfe zu Unrecht in Anspruch genommen wird, sollte man bei der Frage konsequenter Missbrauchsprävention „Abstand halten“. Natürlich liegt die Vermu-ZVI 2020, 242tung nahe, dass die Soforthilfe auch von (regelmäßig Kleinst-)Unternehmern in Anspruch genommen wird, deren Unternehmen bereits vor der Corona-Krise insolvenzreif war. Sicherlich muss alles getan werden, um diesen „Subventionsbetrug“ zu unterbinden. Alle Maßnahmen in diesem Rahmen dürfen aber, soll das Gesetz nicht wirkungslos verpuffen, nicht in langwieriger Bürokratie münden (für die ohnehin kein Personal zur Verfügung stehen würde). Die Rettung vieler rechtfertigt auch hier die offene Flanke des Missbrauchs durch die Unredlichen.
Natürlich wird eine spätere Prüfung der Rechtsmäßigkeit der Gewährung der Soforthilfe durch die zuständigen Behörden erfolgen und diese vermutlich noch auf Jahre nach der Krise beschäftigen. Es wird gewiss eine Reihe von Vorgängen geben, in denen die Voraussetzungen für die Soforthilfe nicht vorlagen und sie deshalb durch Bescheid zurückgefordert werden muss. In festgestellten Missbrauchsfällen wird nicht selten der Vorwurf des Betruges im Raume stehen.
Abgesehen von den strafrechtlichen Folgen wird dies bei den Verfahren im Rahmen eines denkbaren späteren Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners eine Rolle spielen. Zum einen dürften die Forderungen aufgrund missbräuchlicher Inanspruchnahme der Soforthilfe weitgehend solche aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung und damit von einer Restschuldbefreiung nach § 302 InsO ausgenommen sein. Zum anderen schlagen die Fragen der Pfändbarkeit oder Unpfändbarkeit der Soforthilfe unmittelbar auf die Frage der Zugehörigkeit der Soforthilfe zur Masse (§§ 35, 36 InsO) durch. In eröffneten Insolvenzverfahren wird sich für die Insolvenzverwalter die Frage der Insolvenzanfechtung bei zu Unrecht erhaltener Soforthilfe bzw. bei deren zweckwidriger Verwendung stellen müssen. Hier wird mit einem erheblichen Mehraufwand für die Insolvenzverwalter und die Gerichte zu rechnen sein.
Aber auch hier gilt: Abstand halten und der Praxis vertrauen.
Allgemein sollten uns bewusst bleiben:
Viele Gesetze in dieser Zeit sind situationsgeprägt, sie greifen teilweise in Grundrechte ein. Wie wichtig und wie lebensnotwendig unsere Verfassung ist, haben manche erst jetzt erkannt, jetzt, wo das für uns Selbstverständliche plötzlich fehlt oder eingeschränkt wird. Hier heißt es „Nähe bewahren“, die Grundrechte im Auge zu behalten und jedwede unverhältnismäßige Beschränkung zu verhindern. „Abstand halten“ gilt aber gegenüber Politikern und Vertretern von Wirtschafts- und Interessenverbänden, die die Corona-Krise zur Profilierung bzw. zur Förderung von Zielen zu nutzen suchen, die in keinem Zusammenhang mit der Pandemie stehen. Nicht jeder Zweck heiligt die Mittel.
Ass. iur. Ulrich Jäger, Justiziar der Seghorn AG, Bremen

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