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RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2022 EditorialMartin Ahrens

Verstrickung

Spätestens mit der Entscheidung des BGH vom 21. 9. 2017 (ZVI 2018, 150) sind die Konsequenzen einer zwangsvollstreckungsrechtlichen Verstrickung von Forderungen für das Insolvenzverfahren in den Blickpunkt geraten (vgl. etwa Bast/Becker, NZI 2021, 481; Cranshaw, jurisPR-InsR 3/2020 Anm. 1). Auf dem 19. Insolvenzrechtstag in Berlin hat sich der Workshop II mit dem Thema befasst.
Am Ausgangspunkt steht die Pfändung künftiger Bezüge nach § 832 ZPO an der Quelle oder, wie wohl noch häufiger, der pfändbaren Teile der Gutschriften auf einem Pfändungsschutzkonto. Dadurch werden die Verstrickung als staatliche Beschlagnahme des Vollstreckungsgegenstands (Prütting/Gehrlein/Ahrens, ZPO, 13. Aufl., § 829 Rz. 67 f.; Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, 12. Aufl., § 50 Rz. 12) und das Pfändungspfandrecht begründet. Die Verstrickung beinhaltet einen hoheitlichen Akt des Vollstreckungsorgans, durch den eine Sache oder ein Recht der Verfügungsmacht des Schuldners entzogen und der Verwertung zugunsten des Gläubigers zugänglich gemacht wird (Baur/Stürner/Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, 14. Aufl., § 27.2). Als Rechtsfolge der Verstrickung hat das Vollstreckungsgericht dem Drittschuldner nach § 829 Abs. 1 Satz 1 ZPO notwendig zu verbieten (BGH v. 16. 12. 2020 – VII ZB 10/20), dem Schuldner auf seine Forderung zu zahlen (Arrestatorium). Der Drittschuldner darf deswegen die Leistung an keine andere Person auskehren, als den Vollstreckungsgläubiger.
Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens tritt daneben das Vollstreckungsverbot für Insolvenzgläubiger aus § 89 Abs. 1 InsO. Solange kein Absonderungsrecht i. S. d. § 50 Abs. 1 Alt. 2 InsO entstanden ist, muss deswegen das Vollstreckungsorgan die Einzelzwangsvollstreckung einstellen (MünchKomm-Breuer/Flöther, InsO, 4. Aufl., § 89 Rz. 55; Kayser, in: HK-InsO, 10. Aufl., § 89 Rz. 39). Wesentliche Voraussetzung, um ein Absonderungsrecht aufgrund eines Pfändungspfandrechts entstehen zu lassen, ist eine wirksame Verstrickung (K. Schmidt/Thole, Insolvenzordnung, 19. Aufl., § 50 Rz. 20). Sobald diese begründet ist, setzt sich die einzelvollstreckungsrechtliche Wirkung auch gegenüber dem Insolvenzverfahren durch. Wie der BGH überzeugend ausgeführt hat, hindert § 89 InsO gerade nicht die öffentlich-rechtliche Verstrickung. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat auf die Beschlagnahme keinen Einfluss (BGH ZVI 2018, 150; Jaeger/Eckardt, InsO, 2007, § 89 Rz. 73).
Auf die von den Pfändungsmaßnahmen eines Vollstreckungsgläubigers erfassten Gegenstände kann deswegen im Insolvenzverfahren erst zugegriffen werden, wenn die Verstrickungswirkungen beseitigt werden. Im geltenden Recht ist dazu eine gerichtliche Entscheidung erforderlich. Diese kann von Amts wegen (BGH ZVI 2018, 150, Rz. 12; BGH ZVI 2021, 186, Rz. 8; a. A. Engels, NZI 2017, 894) oder auf Antrag ergehen. Regelmäßig wird für jede einzelne Pfändung eine Antragstellung verlangt, für die u. a. der jeweilige Vollstreckungsgläubiger benannt werden muss. Deren Individualisierung kann einen erheblichen Aufwand verursachen, wenn etwa sehr alte Pfändungen mit möglicherweise gewechselten Forderungsinhabern betroffen sind. Dabei ist vielfach eine außergerichtliche Korrespondenz mit dem Vollstreckungsgläubiger erforderlich, um ihn zur Aufgabe des Pfändungsrechts zu veranlassen, weil sonst u. U. das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag zu verneinen ist.
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Angeordnet werden können eine Aufhebung oder Aussetzung der Verstrickung (BGH ZVI 2021, 186, Rz. 10). Regelmäßig wird das Gericht die Vollstreckungswirkung nur aussetzen, um den durch Art. 14 Abs. 1 GG gebotenen Schutz des Pfändungspfandrechts zu gewährleisten. Sonst bestünde bei einem Scheitern des Restschuldbefreiungsverfahrens für den Vollstreckungsgläubiger das Risiko, seinen Vollstreckungsrang zu verlieren. Zwischenzeitlich hat der BGH geklärt, dass nicht alleine eine Aussetzung während des Insolvenzverfahrens, sondern auch in der Treuhandperiode zulässig und erforderlich ist (BGH ZVI 2022, 161; BeckRS 2021, 47271). Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist dafür ein Antrag des Insolvenzverwalters und nach dem Ende des Insolvenzverfahrens während der anschließenden Treuhandperiode ein Antrag des Schuldners erforderlich.
Die beschriebene geltende Rechtslage belastet alle Beteiligten erheblich. Der Schuldner und seine Berater müssen bei Vorbereitung des Insolvenzverfahrens die Vollstreckungsgläubiger identifizieren und kontaktieren. Im eröffneten Insolvenzverfahren muss der Insolvenzverwalter im Interesse der Masse tätig werden und der Schuldner während der Treuhandperiode. Dies verlangt von den Gerichten zahlreiche Entscheidungen. Um diesen Aufwand zu vermeiden, ist eine gesetzliche Regelung erforderlich, sachgerecht und angemessen.
Einer einstufigen gesetzlichen Regelung, durch die mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Verstrickung künftiger Forderungen aufgehoben wird, stehen die gleichen Bedenken entgegen, wie einer Aufhebung durch eine gerichtliche Entscheidung. Folgerichtig müsste eine mehrstufige Gesetzesänderung geschaffen werden.
Um den Schutz einerseits des Vollstreckungsgläubigers und andererseits der Masse sowie des Schuldners zu gewährleisten, sind die Wirkungen differenziert für die einzelnen Verfahrensabschnitte zu regeln. Für das Insolvenzverfahren kann in § 89 InsO eine Aussetzung der Vollstreckung normiert werden. Während der Treuhandperiode ist eine entsprechende Regelung in § 294 Abs. 1 InsO sinnvoll. Beide Normierungen sollten lediglich die Aussetzung der Verstrickung normieren, um die rangwahrende Pfändung nicht zu beseitigen. Abzustellen ist dabei auf die vorinsolvenzlichen begründeten Rechte auch für privilegierte Vollstreckungen aus §§ 850d, 850f Abs. 2 ZPO. Unerheblich sind demgegenüber die aus dem Insolvenzverfahren resultierenden ausgenommenen Forderungen des § 302 InsO. Mit der Erteilung der Restschuldbefreiung ändert sich die Situation. Dann ist die Verstrickung in § 301 InsO aufzuheben.
Eine derart gestufte Regelung trägt den Interessenlagen hinreichend Rechnung. Sie bietet auch eine angemessene Lösung, falls die Restschuldbefreiung versagt wird, weil in diesem Fall die Verstrickung nicht endgültig beseitigt ist. Offenbleibt nur, ob nach Erteilung der Restschuldbefreiung ein binnen Jahresfrist möglicher Widerruf nach § 303 InsO zu berücksichtigen ist. Wegen der außerordentlich seltenen Widerrufsfälle kann hiervon abgesehen werden.
Prof. Dr. Martin Ahrens, Universität Göttingen

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