ZVI 2024, 157

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz ZVI 2024 EditorialMartin Ahrens

Überobligatorische Erwerbstätigkeit

Die Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit des Schuldners im Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren haben vielfältige dynamische Entwicklungen durchlebt. Ihr aktuelles Gesicht unterscheidet sich wesentlich von den früheren Ausprägungen. Dabei sind die Erfordernisse im Lauf der Zeit praktisch kontinuierlich gestiegen.
Eine erste Entwicklungslinie betrifft den sukzessive erweiterten sachlichen Anwendungsbereich der Obliegenheit. Bei Verabschiedung der Insolvenzordnung existierte lediglich in der Treuhandperiode die Erwerbsobliegenheit für Selbstständige und Nichtselbstständige. Mit der Einführung der Kostenstundung wurde in den Verfahren mit Kostenstundung eine Erwerbsobliegenheit begründet. Als Folge der Negativerklärung muss der Schuldner eine an die Anforderungen für einen Selbstständigen angeknüpfte Zahlung leisten. Die letzte Lücke wurde zum 1. 7. 2014 geschlossen und eine allgemeine Erwerbsobliegenheit auch im Insolvenzverfahren geschaffen. Ausdrücklich stellt die gesetzliche Regelung zwar nur auf Nichtselbstständige ab, doch betrifft sie nach allgemeiner Auffassung auch Selbstständige.
Parallel dazu sind in einer zweiten Entwicklungslinie die Anforderungen an den Schuldner durch die Rechtsprechung ausdifferenziert und vertieft worden. So sind etwa die Maßstäbe für eine Arbeitssuche des erwerbslosen Schuldners präzisiert worden. Weitere Themenkomplexe bilden etwa die zulässige Kinderbetreuung, die Wahl der Steuerklasse oder die Notwendigkeit einer Vollzeitbeschäftigung.
Lediglich vereinzelt sind überschießende Erfordernisse kupiert worden. Bemerkenswerterweise betreffen die Einschränkungen vor allem die Anforderungen an Selbstständige. Bereits frühzeitig sind dessen Zahlungen, entsprechend den gesetzlichen Maßstäben, beschränkt worden. Referenzgröße bildet danach das fiktive Nettoeinkommen aus einer angemessenen abhängigen Beschäftigung, nicht der Gewinn aus der tatsächlich ausgeübten selbstständigen Erwerbstätigkeit. Angemessen ist nach § 295 Abs. 2 InsO a. F. nur eine dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit. Wenn dem Schuldner eine solche Beschäftigung nicht möglich ist, verstößt er nicht gegen seine Erwerbsobliegenheit. Keine Zahlungserfordernisse bestehen, wenn die ausgeübte selbstständige Tätigkeit zu keinem Gewinn führt. Mit der jüngsten Einführung von § 295a InsO ist ein Zahlungstermin und ein Feststellungsverfahren geschaffen worden, die den Selbstständigen zusätzlich schützen sollen.
ZVI 2024, 158
Die jüngste Dimension betrifft die Leistungen von überobligatorisch tätigen Schuldnern im Rentenbezugsalter. Bereits in seiner Entscheidung vom 12. 4. 2018 (ZVI 2018, 382) hat der BGH eine Zahlungspflicht für einen Schuldner angenommen, der gearbeitet hat, obwohl er aufgrund seines Alters nicht mehr erwerbspflichtig war. Allerdings bestand in dem betreffenden Verfahren eine Zahlungspflicht infolge einer Vereinbarung mit dem Insolvenzverwalter.
Noch weiter geht der IX. Zivilsenat jetzt in seiner Entscheidung vom 12. 10. 2023 (ZVI 2024, 70; dazu eingehend A. Schmidt, ZVI 2024, 39). Hier hält der Senat aufgrund der überobligatorischen Tätigkeit Zahlungen nach dem Maßstab des § 850a Nr. 1 ZPO (dazu bereits BGH ZVI 2014, 418, Rz. 12, dazu EWiR 2014, 627 (Ahrens)) für erforderlich, obwohl dem Schuldner aufgrund einer schweren Erkrankung der Arbeitsmarkt für Nichtselbstständige verschlossen war (ablehnend Schädlich, NZI 2024, 126). Der BGH reduziert dabei den Telos der Zahlungen auf die Teilhabe der Gläubiger an den Einkünften und Gewinnen des Schuldners, obwohl nach den Gesetzgebungsmaterialien Selbstständige den abhängig Beschäftigten gleichgestellt werden sollen (BT-Drucks. 16/3227, S. 11, 17). Dies ist freilich ausgeschlossen, wenn der Schuldner keine abhängige Erwerbstätigkeit ausüben kann.
Mit diesem Urteil hat der Senat die gesetzliche Restriktion in § 295a InsO überschritten. Noch unabsehbar ist, ob es sich dabei um einen Einzelfall handelt oder sich darin ein weitergehender Rechtsprechungswandel abzeichnet. Dieser würde sich in die Tendenzen zur Erweiterung der Erwerbsobliegenheit einfügen. Sachlich wäre er bedenklich.
Prof. Dr. Dr. h. c. Martin Ahrens, Georg-August-Universität Göttingen

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