ZVI 2018, 173

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2018 EditorialMartin Ahrens

Nachzahlungen

Das Lohnpfändungsrecht der ZPO und ihm folgend zahlreicher anderer Vollstreckungsregime, vgl. nur § 319 AO, § 54 Abs. 4 SGB I, § 5 VwVG, aber auch § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 198 Abs. 1 SGG und § 150 Satz 1 FGO, ist primär an der Pfändung von Forderungen auf fortlaufende Bezüge ausgerichtet. Ansprüche auf diskontinuierliche Leistungen lassen sich dagegen nur schwer in dieses System einfügen. Bereits § 850i ZPO spricht eine beredte Sprache und weist die Schwierigkeiten bei anderen als laufenden Ansprüchen nur zu deutlich aus. Ein besonderes Problem bilden dabei die Nachzahlungen von Entgelt- oder Entgeltersatzleistungen.
Der Entgeltpfändungsschutz ist darauf ausgerichtet, die Existenz des Schuldners auf einem einfachen, aber angemessenen Niveau zu sichern. Die grundlegende Wertungsfrage bei zeitlich versetzten Zahlungen lautet daher, ob aus der Nichtverfügbarkeit der nachgezahlten Beträge in den entsprechenden Leistungszeiträumen darauf geschlossen werden kann, sie seien nunmehr für die Deckung des Lebensunterhalts nicht mehr erforderlich. Zugespitzt könnte also gefolgert werden, was der Schuldner nicht ausgegeben habe, benötige er auch nicht, gleichgültig ob ihm das Geld überhaupt zur Verfügung stand. Gegen eine solche These existieren allerdings gravierende Einwände. Wegen des pfändungsrechtlichen Abstandsgebots liegt die Lohnpfändungsgrenze oberhalb des Niveaus eines menschenwürdigen Existenzminimums. Der Schuldner soll auch Anschaffungen tätigen können, die aus dem Existenzminimum nicht möglich sind. Nicht jedes Zurückbleiben hinter dem Pfändungsfreibetrag berührt zudem bereits das Existenzminimum. Zu denken ist etwa an Studenten, deren monatliches Budget wohl meist die Pfändungsgrenze unterschreitet. Zudem bezeichnet das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (BVerfG NJW 2010, 505, Rz. 133) nur das rechtliche, nicht aber das zum Überleben erforderliche ökonomische Mindestmaß an finanziellen Mitteln. Als zynische Konsequenz müsste sonst die Zahlung nur lange genug verzögert werden, damit der Schuldner die Leistung nicht mehr benötigt.
Auf sicherem rechtlichen Grund steht der Schuldner bei der Pfändung von Arbeitseinkünften. Entgeltnachzahlungen werden dem Zeitraum zugerechnet, für den, nicht in dem sie gezahlt werden. Dies folgt aus dem klaren Wortlaut von § 850c Abs. 1 Satz 1 ZPO und entspricht der ganz überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur (vgl. nur BAG NZA 2002, 323, 324; Stein/Jonas/Würdinger, ZPO, 23. Aufl., § 850c Rz. 9; Prütting/Gehrlein/Ahrens, ZPO, 10. Aufl., § 850c Rz. 9). Gleiches gilt beim Pfändungsschutzkonto, denn § 850k Abs. 4 Satz 2 ZPO verpflichtet das Vollstreckungsgericht, grundsätzlich das Gesamtkonzept des Lohnpfändungsrechts auf das Pfändungsschutzkonto zu übertragen, wie der BGH soeben betont hat (BGH v. 24. 1. 2018 – VII ZB 27/17, Rz. 9; Ahrens, VuR 2014, 117, 118).
Wesentlich komplexer stellt sich die Rechtslage bei nachgezahlten Sozialleistungen dar. Im Ausgangspunkt ist hier der sozialrechtliche Aktualitätsgrundsatz zu berücksichtigen, vgl. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i. V. m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Dieses Prinzip soll, wohl nicht ganz zutreffend, auch mit der Parömie in praeteritum non vivitur bezeichnet werden können, d. h. in der Vergangenheit wird nicht gelebt (kritisch zur Terminologie Ahrens, VuR ZVI 2018, 1742014, 117, 119). Im Umkehrschluss kann aber aus dem Aktualitätsgrundsatz abgeleitet werden, dass dann jedenfalls in den gesetzlichen Fristen eine Nachzahlung möglich ist. Freilich ist damit noch keine vollstreckungsrechtlich eindeutige Aussage verbunden.
Im Bereich des Kontopfändungsschutzes hat der Zwangsvollstreckungssenat des BGH soeben zwei Entscheidungen über nachgezahlte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gefällt. In diesen Beschlüssen hat der Senat festgestellt, dass bei der Bemessung des pfändungsfreien Betrags auf einem Pfändungsschutzkonto die nachgezahlten Beträge entsprechend den Grundsätzen im Lohnpfändungsrecht den Leistungszeiträumen zuzurechnen seien, für die sie gezahlt werden. Für den Zeitraum bis zum 31. 7. 2016 folge dies aus § 54 Abs. 4 SGB I, der auf eine entsprechende Anwendung von § 850c Abs. 1 Satz 1 ZPO verweise. Sonst kämen die Leistungen im Ergebnis nicht dem Leistungsempfänger, sondern seinen Gläubigern zugute, was ihrem Zweck widerspräche. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II dienten der Existenzsicherung und sollten deswegen bei der leistungsberechtigten Person verbleiben (BGH v. 24. 1. 2018 – VII ZB 21/17, ZVI 2018, 209 (in diesem Heft), Rz. 11 f.). Ansprüche auf Sozialhilfe sind nach § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB XII unpfändbar. Seit dem 1. 8. 2016 sind auch Ansprüche zur Sicherung des Lebensunterhalts aus der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach § 42 Abs. 4 Satz 1 SGB II unpfändbar. Diese Unpfändbarkeit gilt an der Quelle. Eine entsprechende Anwendung von § 42 Abs. 4 Satz 1 SGB II im Kontopfändungsrecht, wie sie § 850k Abs. 4 Satz 2 ZPO für die Bestimmung des § 17 Abs. 1 Satz 2 SGB XII anordnet, ist dagegen nicht normiert. Aus dem Gleichlauf des Kontopfändungsschutzes mit den allgemeinen Pfändungsschutzregeln leitet der Senat jedoch überzeugend eine entsprechende Anwendbarkeit des Pfändungsausschlusses ab (BGH v. 24. 1. 2018 – VII ZB 27/17, Rz. 10 ff.).
Auch jenseits des Kontopfändungsschutzes steht damit fest, dass Nachzahlungen von Sozialhilfe und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur entsprechend der Pfändungsfreigrenzen des Zeitraums pfändbar sind, für den sie erbracht werden. Für andere Nachzahlungen, etwa von Alters- oder Hinterbliebenenrenten, aber auch von BAföG-Leistungen (Hk-ZV/Meller-Hannich, 3. Aufl., § 850a Rz. 27), gilt § 54 Abs. 4 SGB I. Auf derartige Leistungen sind die lohnpfändungsrechtlichen Grundsätze zu übertragen. Pfändungsschutz ist demzufolge in dem Umfang zu gewähren, wie er unter Anwendung der Vollstreckungsregeln dem Schuldner zugestanden hätte, wenn die Beträge in dem Leistungszeitraum gezahlt worden wären, auf die sie sich beziehen. Für Aufrechnungen und Verrechnungen der Sozialleistungsträger gilt nach den § 51 Abs. 1, § 52 SGB II zumindest die Regelung aus § 54 Abs. 4 SGB I entsprechend.
Prof. Dr. Martin Ahrens, Universität Göttingen

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