ZVI 2022, 45

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2022 EditorialThomas Reck

Die Insolvenz-Boosterung

Im Oktober 2021 wurden nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes 5.981 Verbraucherinsolvenzverfahren beantragt, ferner 38 Verfahren natürlicher Personen als Gesellschafter und 1.711 Verfahren ehemals selbstständig Tätiger. In der Gesamtbetrachtung für die Monate Januar 2021 bis Oktober 2021 ergeben sich für diese drei Fallgruppen insgesamt 86.382 Anträge.
Während die Unternehmensinsolvenzen nach wie vor in der Krise sind (was ja eigentlich erst einmal nichts Schlechtes bedeutet, wenn man nicht gerade Insolvenzverwalter ist), sind die Verfahrenszahlen bei natürlichen Personen geradezu geboostert, auch wenn nach dem Verlassen des Tals der Tränen die Welle noch nicht wieder an die bisherigen Höchstwerte im Jahr 2010 mit ungefähr 130.000 Verfahren natürlicher Personen heranreicht.
Das sollte Anlass dazu geben, sich erneut mit der Frage zu beschäftigen, wie viel Aufwand das Insolvenzverfahren rechtfertigt. Vom inquisitorischen Subtext der Anfangsjahre, in denen über einen aus heutiger Sicht unfassbar langen Zeitraum der Schuldner auch durch belehrend-erzieherische Einwirkung wieder auf den rechten Zahlungsweg zurückgeführt werden sollte, ist so gut wie nichts mehr verblieben. Mit der Einschränkung, dass seit letztem Jahr in der Wohlverhaltensperiode Geschenke und Gewinne mit einem Wert oberhalb einer nicht näher definierten Bagatellgrenze zur Schuldentilgung zu verwenden sind. Damit ist schon fast eine Stufe gesetzlich definierten Neids erreicht: wer „in der Inso“ ist, hat (fast) nichts geschenkt zu bekommen und auch nichts zu gewinnen.
Dabei darf aber nicht vergessen werden: Es handelt sich um ein Massenverfahren, bei dem in einem sukzessive auf nunmehr drei Jahre heruntergeschraubten Zeitraum das politisch gewollte Ergebnis der Entschuldung erreicht werden soll. Was bringt es vor diesem Hintergrund, wenn zum Beispiel im Rahmen einer ungeachtet ihrer Rechtswidrigkeit gleichwohl anzutreffenden Verfahrensweise durch formell weder beauftragte noch anderweitig legitimierte Überwachungstätigkeiten des Treuhänders Stundungsaufhebungen und in der weiteren Folge Versagungen der Restschuldbefreiung nach § 298 InsO herbeigeführt werden? Zumindest in massehaltigen Verfahren kann auch das Abwarten auf die definitiv auf drei Jahre gekürzte Laufzeit der Abtretungsfrist dem einen oder anderen Schuldner Probleme bringen: Damit ist möglicherweise ein Versagungsgrund nach § 290 Abs. 1 Nr. 4 InsO verwirklicht worden, hier die Beeinträchtigung der Befriedigung der Insolvenzgläubiger durch eine ohne Aussicht auf eine Besserung seiner wirtschaftlichen Lage verzögerte Eröffnung des Insolvenzverfahrens. In diesem Kontext wäre dem Schuldner gegebenenfalls vorzuhalten, dass das ausschließlich eigennützig motivierte Abwarten auf eine Rechtsänderung versagungsrechtlich unangenehme Konsequenzen für ihn haben kann.
Auch in der immer noch aktuellen Verbindung zwischen Insolvenz und Corona lassen sich Fallgestaltungen finden, bei denen ursprünglich gutgemeinte Regelungen einen negativen Ausgang begünstigen können.
Nach dem im Mai 2020 geschaffenen Art. 240 § 5 EGBGB waren Veranstalter berechtigt, den Gegenwert vor dem 8. 3. 2020 gekaufter Eintrittskarten für wegen Corona abgesagte oder untersagte Musik-, Kultur-, Sport- und sons-ZVI 2022, 46tige Freizeitveranstaltungen durch die Ausgabe von Gutscheinen zu entschädigen. Bis 31. 12. 2021 war die Forderung kraft Gesetzes gestundet. Seit 1. 1. 2022 können Gläubiger ohne weitere Voraussetzungen die Auszahlung des Geldwertes verlangen.
Der Versuch, mittels der Gutscheinlösung für besonders betroffene Branchen die Rückzahlungslast abzumildern, kann aber auch nach hinten losgehen: Es handelt sich in vielen Fällen um Betriebe, die weiterhin erheblichen Restriktionen bis zur Schließung unterliegen. Hinzu kann noch die Rückforderung von Corona-Soforthilfen kommen. In einer Insolvenz des Firmeninhabers beeinflusst eine durch die Menge der im Umlauf befindlichen Gutscheine in die Höhe gehende Gläubigerzahl die Mindestvergütung. In diesem Sinne wird eine ohnehin nur bescheidene Quotenaussicht dadurch eliminiert, dass die Mindestvergütung etwaige Massezuflüsse kannibalisiert.
Die Gutscheinproblematik muss aber auch von der anderen Seite betrachtet werden. Der an keine weiteren Voraussetzungen mehr geknüpfte Auszahlungsanspruch seit 1. 1. 2022 bedeutet auch, dass in einer Insolvenz des Kartenkäufers ein Veranstaltungsgutschein nunmehr zu liquidieren ist.
Insolvenzrechtlich bestehen keine coronaspezifischen Ausnahmeregelungen mehr. Dabei ist der Komplex Gutscheine gar nicht berücksichtigt worden, da die in anderen Fällen regelhaft zu bemerkende Flexibilität bei einer Anpassung von Geltungsdauern und -terminen von Coronavorschriften hier nicht entwickelt wurde. Das kann in Abhängigkeit von der Betrachtungsweise dazu führen, dass der Insolvenzantrag zu früh gestellt wurde (keine Einbeziehung geplatzter Gutscheinforderungen und zurückzuzahlender Corona-Soforthilfen) oder auch zu spät (keine erwartbare Besserung der Situation).
Die Corona-Gutscheine können einen Schuldner daher noch lange verfolgen. Ob das so gewollt war?
Assessor Thomas Reck, Bremen

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