RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln
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1619-3741
Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz
ZVI
2024
EditorialKlaus Hofmeister
Die Bagger rollen an …
Zwei Baustellen stehen der deutschen Schuldnerberatung im kommenden Jahr ins Haus. Dies ist zum einen die Umsetzung von Artikel 36 der EU-Verbraucherkreditrichtlinie und zum anderen die Vorlage einer Finanzbildungsstrategie durch das Bundesministerium der Finanzen (BMF) gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Mit der Verbraucherkreditrichtlinie wackelt womöglich das gesamte gesetzliche und damit auch institutionelle Fundament der Beratungsstellen, das dann einer Neukonstruktion bedarf. Dies kann Chance und Risiko zugleich sein. Bei der Finanzbildungsstrategie kommt der Schuldnerberatung bisher eher die Rolle eines Zaungastes zu. Sie muss hartnäckig argumentativ auf den Putz hauen, damit sie inhaltlich den Belangen ihres Klientel beim Aufbau und der Ausgestaltung dieses Programms Gehör verschaffen kann.
Seit Jahren fordern die Verbände der Schuldnerberatung ein individuelles Recht auf Schuldnerberatung für überschuldete Menschen. Mit der Regelung in Artikel 36 Abs. 1 der EU-Verbraucherkreditrichtlinie vom 18. 10. 2023 scheint dies nun in greifbarer Nähe zu liegen. Dort ist zu lesen: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass den Verbrauchern, die Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer finanziellen Verpflichtungen haben oder haben könnten, unabhängige Schuldnerberatungsdienste, für die nur begrenzte Entgelte zu entrichten sind, zur Verfügung gestellt werden.“ Diese sollen gem. Art. 36 Abs. 3 „leicht zugänglich“ sein.
Die Zeit drängt, denn die Mitgliedsstaaten müssen die Richtlinie bis zum 20. 11. 2025 in nationales Recht umsetzen und diese Regelung ab dem 20. November 2026 anwenden.
Im Auftrag des Caritasverbandes für das Bistum Aachen e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände hat Rixner zur Umsetzung von Art. 36 Verbraucherkreditrichtlinie, insbesondere zum Rechtsanspruch auf kostenfreie Schuldnerberatung im Mai 2024 ein Gutachten vorgelegt (www.agsbv.de). Er kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass ab dem Anwendungszeitpunkt „diese Dienste für um Beratung nachsuchende Menschen in überschaubarer Zeit, also insbesondere bei akutem Beratungsbedarf regelmäßig innerhalb weniger Tage, wohnortnah in voller Unabhängigkeit insbesondere von Kreditgebern zur Verfügung stehen“ müssen. Weiterhin sei ein konditionsloser Zugang zu Schuldnerberatungsdiensten zu schaffen, bei dem es nicht darauf ankomme, ob beispielsweise eine finanzielle Bedürftigkeit nach sozialrechtlichen Vorschriften vorliege. Weiterhin sei Deutschland als Umsetzungsgesetzgeber aufgetragen „einen Rechtsanspruch auf kostenfreie Schuldnerberatung zu schaffen“. Als möglichen Standort für die Umsetzungsvorschriften werden diverse Alternativen in bestehenden Gesetzeswerken aus dem Bereich des Zivilrechts bzw. der Rechtsberatung, dem Sozialrecht und vorzugsweise die Möglichkeit eines eigenen speziellen Gesetzes über die Schuldnerberatung vorgetragen. Das klingt verlockend, dann wäre das Klientel der Beratungsstellen aus den bisherigen Verankerungen im SGB II und SGB XII und den damit verbundenen Einschränkungen (finanzielle Bedürftigkeit) befreit.
Homann hat sich in seinem Beitrag in der ZVI 2024, 239 ff. ausführlich und differenziert mit den Standpunkten und Argumenten des Gutachtens auseinandergesetzt, wobei er auf zum Teil abweichende Bewertungen kommt. Aus Sicht ZVI 2024, 406von Rein „hat die Regelung in Art. 36 dem nationalen Gesetzgeber nicht vorgegeben, Schuldnerberatung kostenfrei zu gewähren.“ Er warnt jedoch zu Recht eindringlich davor, das derzeitige „fast flächendeckende System der Kostenfreiheit“ aufzugeben (ZVI 2024, 367 ff.). Ein allgemeines Recht auf Schuldnerberatung lässt sich seinen Ausführungen zufolge aus der Richtlinie nicht ableiten. Denn Verbraucher ohne Schuldenprobleme aus Verbraucherkrediten haben keinen aus der Verbraucherkreditrichtlinie ableitbaren Anspruch auf Schuldnerberatung. Alle drei zitierten Schriftstücke sind für die Vertreter der Schuldnerberatung aufgrund der Brisanz des Themas Pflichtlektüre. Denn damit wurde die Diskussion über die in Bälde bevorstehende Neufundamentierung und veränderte gesetzliche Statik der Schuldnerberatung eingeläutet. Festzuhalten ist, dass es künftig neben der Schuldnerberatung nach dem SGB II, SGB XII und der InsO noch einen weiteren Beratungs-/Hilfeanspruch gibt, der sich aus der Verbraucherkreditrichtlinie ableitet. Die Praxis zeigt, dass die Abgrenzung bereits jetzt schon schwierig und teilweise fließend ist. Dies wiederum hat Folgewirkungen auf die Finanzierung der Beratungsleistungen. Um dies aufzulösen wurde zum Beispiel in Bayern nach jahrelangen Verhandlungen zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und der freien Wohlfahrtspflege einerseits sowie dem Land Bayern andererseits über einen entsprechenden Finanzausgleich die Zuständigkeit für die Sicherstellung der (Verbraucher-)Insolvenzberatung auf die Kommunen übertragen. Damit konnte zumindest in Bezug auf die Finanzierung die unsinnige Trennung zwischen der sozialen Schuldnerberatung nach dem SGB II/XII und der Insolvenzberatung weitgehend aufgehoben werden. Durch die dadurch erheblich stabilisierte Planungssicherheit für die Träger hat sich auch für die ratsuchenden Bürger*innen das Beratungsangebot wesentlich verbessert.
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob es nicht angezeigt und überfällig ist, einen einheitlichen Anspruch auf Schuldnerberatung in einer spezifischen gesetzlichen Regelung zu schaffen. Vor verfrühter Euphorie z. B. über ein eigenes Schuldnerberatungsgesetz sollte allerdings gewarnt werden. Denn auf die Beratungsstellen und ihre Träger kommen bei einer Umbettung aus den mancherorts leider restriktiv gehandhabten Normierungen im SGB II und SGB XII in eine andere gesetzliche Heimat viele Fragestellungen und Hürden zu. Insbesondere die künftige Finanzierung und die diesbezügliche Zuständigkeit werden ein kritisches Thema werden, denn eine Neuverortung wird, den Worten von Homann folgend „schon erhebliche Haushaltsmittel kosten“. Im Zeiten klammer öffentlicher Kassen wird so mancher Kämmerer erfreut sein, wenn er Ende 2026 die bisherige Kostenträgerschaft für die Schuldnerberatung im SGB II und XII auf andere Schultern legen darf. Ob dies dort dann mit gleicher Münze aufgewogen wird, steht aktuell völlig in den Sternen. Der Schuldnerberatung steht womöglich eine große Baustelle bevor, vielleicht wird es ja auch nur ein relativ kleiner Erweiterungsbau. In jedem Fall wird es zu einem gesetzlichen An-, Um- oder Neubau kommen. In der Ferne hört man hierfür gedanklich schon die Bagger rollen.
Andere Baustelle: Die Creditreform hat in ihrem Schuldneratlas Deutschland bundesweit 5,65 Mio. überschuldete Personen über 18 Jahren für das Jahr 2023 ermittelt. Das entspricht einer Überschuldungsquote bei den Erwachsenen von 8,15 %. Gemäß der Überschuldungsstatistik des Statistischen Bundesamtes gehören Defizite in der individuellen Finanzkompetenz regelmäßig zu den Hauptursachen von Überschuldung (Statistisches Bundesamt, Hauptauslöser der Überschuldung in % für die Jahre 2013 bis 2023, Stand: 2. 8. 2024). In Fachkreisen werden daher seit langem breit angelegte Maßnahmen zur Schuldenprävention durch systematische Vermittlung von Finanzkompetenzen gefordert. Hierdurch ließen sich zahlreiche Überschuldungsproblematiken und somit auch Privatinsolvenzen vermeiden. Mancherorts sind auf kommunaler Ebene oder durch Verbände eine Reihe von Aktivitäten in diesem Bereich zu verzeichnen, so z. B. durch den Beratungsdienst Geld und Haushalt der Sparkassen Finanzgruppe (www.geldundhaushalt.de) oder das Projekt FiT FinanzTraining des Vereins für Fraueninteressen e. V. München (www.fit-finanztraining.de). Allerdings mangelt es bisher an einem flächendeckenden und abgestimmten Vorgehen auf allen Ebenen. Auszumachen sind eher punktuelle Aktivitäten, die meist auf die örtliche Ebene begrenzt sind.
Umso begrüßenswerter ist daher grundsätzlich, dass im März 2023 das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Initiative Finanzielle Bildung gestartet haben. Zentraler Kernpunkt dabei soll neben einer Finanzbildungsplattform (www.mitgeldundverstand.de) und einem Fond zur Stärkung der Forschung zur finanziellen Bildung die Erarbeitung einer Finanzbildungsstrategie für Deutschland sein, um die Kompetenzen breiter Bevölkerungsgruppen in diesem Bereich zu fördern. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wurde beauftragt, für eine solche Strategie einen Vorschlag zu entwickeln. Der daraus resultierende rund 90-seitige Bericht wurde Ende September 2024 im Rahmen einer Pressekonferenz von der OECD an Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger übergeben (Finanzbildung in Deutschland: Finanzielle Resilienz und finanzielles Wohlergehen verbessern, OECD ZVI 2024, 407Business und Finance Policy Papers, 2024, https://www.oecd-ilibrary.org/finance-and-investment/finanzbildung-in-deutschland_c20b27ac-de).
Als Basis der Analyse wurden die Ergebnisse aus einer einschlägigen Untersuchung im Jahr 2022 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) herangezogen. Darin wurde hinsichtlich der finanziellen Resilienz privater Haushalte in Deutschland festgestellt, dass diese zwar über dem EU-Durchschnitt liegt, jedoch ca. 30 % der Erwachsenen laut eigenen Angaben bis zum Monatsende sämtliche Einkünfte aufgebraucht haben und keine Rücklagen bilden können. 25 % gaben an, sie wären nicht in der Lage, ihre Lebenshaltungskosten mindestens 3 Monate lang zu decken, wenn ihre Haupteinnahmequelle wegfiele.
Weiterhin flossen in die Studie die Erkenntnisse aus einer 2023 durchgeführten nationalen Erhebung bei 122 Einrichtungen ein, die auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in der Vermittlung von Finanzkompetenzen tätig sind. Im Einklang mit der OECD-Empfehlung zur finanziellen Bildung und der Europäischen Kommission wird Finanzkompetenz dabei definiert als eine „Kombination aus finanziellem Problembewusstsein und Kenntnissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen, die notwendig sind, um solide Finanzentscheidungen zu treffen und damit letztlich das finanzielle Wohlergehen zu sichern“.
Als Resümee stellt die OECD im vorgelegten Papier fest, dass sich das Finanzkompetenzniveau der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland im internationalen Vergleich insgesamt auf einem relativ guten Stand befindet. Dies trifft jedoch nicht durchgängig für alle Menschen gleichermaßen zu. Bestimmte Bevölkerungsgruppen weisen der Erhebung zufolge in puncto finanzieller Bildung erhebliche Lücken auf und erhalten derzeit nicht genügend bzw. keine Finanzbildungsangebote, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Dies hat häufig negative Auswirkungen auf das finanzielle Wohlergehen der Betroffenen und bei Zahlungsunfähigkeit auch auf die Gesellschaft. Daher sei es erforderlich, geeignete Programme zur Stärkung der Finanzkompetenzen für diese Personenkreise zu konzipieren und bereit zu stellen. Hierzu gehören laut der Studie beispielsweise Menschen mit niedrigem Einkommen und Bildungsstand, überschuldete Personen, Erwerbslose, Geflüchtete sowie junge Menschen, aber auch Frauen/Alleinerziehende, die etwa aus familiären Gründen Unterbrechungen der beruflichen Laufbahn und damit eine schlechtere Altersvorsorge zu verzeichnen haben.
Angemahnt wird zudem eine bessere Berücksichtigung des Themas im Schulunterricht sowie in der Aus-/Fortbildung der Lehrkräfte. Solche Ansätze gibt es indes seit längerem in einzelnen Bundesländern, so z. B. die Richtlinien für die Ökonomische Verbraucherbildung an bayerischen Schulen aus dem Jahr 2009. Was fehlt, ist der rote Faden über die Ländergrenzen hinweg und ebenso die Lehrer*innen, die Zeit haben und qualifiziert sind, diese Inhalte umzusetzen. Ansonsten stehen solche Vorgaben – wie leider in Bayern geschehen – nach einiger Zeit primär auf dem Papier der Amtsblätter, ohne dass sie wirklich Wirkung entfalten.
Inhaltlich sehen die Autoren des OECD-Berichts folgende Themenbereiche für eine nationale Finanzbildungsstrategie:
- Langfristiges Sparen und Altersvorsorge
- Beteiligung am Kapitalmarkt
- Verantwortungsvolle Kreditnutzung
- Sichere Nutzung digitaler Finanzdienstleistungen
- Umsetzung von Nachhaltigkeitspräferenzen (Einsatz von Ersparnissen in klimafreundliche Finanzprodukte)
Dieser Katalog ist aus Sicht des Verfassers nicht ausreichend und geht an der Lebenswirklichkeit vieler einkommensschwacher Menschen vorbei. Er zielt eher ab auf privilegierte Zielgruppen, die in der Lage sind, Ersparnisse und Vermögen zu bilden. Schlichtweg: Die Statik des Konstrukts hat eine Schieflage. Es fehlen Schwerpunkte wie etwa die Aufklärung über Verbraucherrechte und deren Wahrnehmung, die Information über soziale Leistungen und deren Geltendmachung, die Möglichkeiten sparsamen alternativen Wirtschaftens (z. B. Tauschbörsen) und dergleichen.
Menschen mit geringen Renten bzw. Bezieher von Grundsicherung im Alter oder anderer Transferleistungen wie Wohngeld und Bürgergeld sowie Personen mit Niedrigeinkommen müssen mit den geringen verfügbaren Mitteln extrem haushalten um über die Runden zu kommen und Schulden zu vermeiden. Für sie geht es um das tägliche Auskommen mit dem schmalen Einkommen. Dies findet im vorgelegten Bericht leider kaum Berücksichtigung. Eine ZVI 2024, 408nationale Finanzbildungsstrategie sollte sich im Interesse der vulnerablen Personengruppen auch auf die Vermittlung grundlegender Finanzfertigkeiten konzentrieren wie etwa der individuellen Haushaltsbudgetplanung (Haushaltsbuch).
Der Personenkreis, der sich am unteren Rand der Einkommensskala befindet und sehr knapp kalkulieren muss ist beträchtlich. Hierzu gehören nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes 7,3 Millionen Bezieher von Leistungen der sozialen Mindestsicherung (insbesondere Bürgergeld, Grundsicherung im Alter). Hinzu kommen mehrere Millionen Berufstätige, die als Geringverdiener gelten.
Trotz der vorgetragenen Kritik ist der Bericht ein wichtiger Meilenstein und daher zu begrüßen, da er die Notwendigkeit systematischer und differenzierter Finanzbildungsinstrumente in den Fokus rückt. Hinsichtlich der notwendigen Erweiterung des Blickwinkels darf auf die Sicht des bundesweiten Präventionsnetzwerkes Finanzkompetenz e. V. hingewiesen werden: „Eine nationale Finanzbildungsstrategie kann nicht nur auf der individuellen Ebene in Form von Kompetenzerwerb angesiedelt sein, sondern muss ebenso strukturell Rahmenbedingungen schaffen, die den Zugang zu finanzieller Bildung, Informationen und Dienstleistungen erleichtern, Verbraucher*innen bei der Entscheidungsfindung unterstützen und vor unseriösen Angeboten durch starke Verbraucherrechte und -beratung schützen.“ (Präventionsnetzwerk Finanzkompetenz e. V., Anforderungen an eine nationale Finanzbildungsstrategie für Deutschland, August 2023, www.pnfk.de).
Den verantwortlichen Ministerien wäre ans Herz zu legen, dies bei der Konzeption der Finanzbildungsstrategie zu berücksichtigen.
Klaus Hofmeister, Abteilungsleiter im Sozialreferat der Landeshauptstadt München