ZVI 2023, 421

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz ZVI 2023 EditorialKlaus Hofmeister

Blick in die Glaskugel – Evaluation 2024

Die volkswirtschaftliche Bedeutung des privaten Konsums tritt neben den „großen“ wirtschaftspolitischen Schlagzeilen oft in den Hintergrund. Dabei hat der Konsum der privaten Haushalte pro Jahr regelmäßig einen Anteil von über 50 % des Bruttoinlandsprodukts auf der Nachfrageseite. 2022 waren die Ausgaben der Privathaushalte – auch aufgrund von Nachholeffekten aus den Pandemiejahren – mit einer preisbereinigten Steigerung von 4,6 % die wichtigste Wachstumsstütze der volkswirtschaftlichen Entwicklung (Destatis, Pressemitteilung Nr. 20/23 v. 13. 1. 2023). Vor dem Hintergrund dieser Relevanz lässt sich durchaus eine ökonomische Logik dafür finden, dass der Gesetzgeber die Ende 2020 beschlossene Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf 3 Jahre (BGBl I 2020, 3328) gekoppelt hat mit einer Evaluation zu den Auswirkungen dieser Änderungen auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten der Verbraucher (Art. 107a EGInsO). Im Zuge des seinerzeitigen Gesetzgebungsverfahrens wurden zudem von einzelnen Verbänden massive Bedenken geäußert, dass die Zahlungsmoral auf Verbraucherseite dadurch beeinträchtigt werden könnte mit negativen Auswirkungen insbesondere auf die Kreditwirtschaft.
Lackmann (ZVI 2023, 385 f.) hat das vermutliche Ergebnis der Evaluation, die die Bundesregierung bis zum 30. 6. 2024 dem Deutschen Bundestag vorzulegen hat, bereits vorweggenommen. Nach seiner Prognose werden keine entsprechenden Verhaltensveränderungen festzustellen sein, denn niemand habe Spaß am Schuldenmachen in Erwartung eines dann nachfolgenden dreijährigen Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens. Frage ist, ob dieser pointierten Schlussfolgerung auch im Lichte objektiver Daten zugestimmt werden kann. Schlaglichtartig sollen hierzu drei Indikatoren betrachtet werden: Die Entwicklungen der bundesweiten Überschuldung, die Ausfälle bei Konsumentenkrediten und die Anzahl der Verbraucherinsolvenzverfahren seit der Reform 2020.
Die Überschuldungsquote der volljährigen Bevölkerung ist gemäß dem SchuldnerAtlas der Creditreform von 2019 mit 10,0 % (6,92 Mio. Personen) bis 2022 mit 8,48 % (5,88 Mio. Personen) sukzessive deutlich gesunken (SchuldnerAtlas Deutschlang 2022, Creditreform Wirtschaftsforschung, 2022). Zahlen für 2023 lagen bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe leider noch nicht vor. Hintergrund für diesen deutlichen Rückgang waren u. a. die eingeschränkten Konsummöglichkeiten, Konsumverzicht, Aufzehrung von Rücklagen während der Corona-Pandemie, gepaart mit stärkerem Sparverhalten der Verbraucher angesichts der Unwägbarkeiten der Zukunft. Letzteres war allerdings für viele Personen mit kleineren Einkommen gar nicht möglich. Eine vergleichbare Entwicklung wie aus dem SchuldnerAtlas ist dem Privatverschuldungsindex (PVI) zu entnehmen, den die Schufa laut eigenen Angaben auf der Basis von kreditrelevanten Informationen von 68,7 Millionen volljährigen Personen ermittelt. Dieser sank bundesweit von 2021 auf 2022 um 3,1 % auf den Wert von 872 Punkten, für 2023 wird ein weiterer Rückgang um 4 % auf die Marke von 837 Punkten prognostiziert (diese und nachfolgende Daten der Schufa aus: Schufa Risiko- und Kreditkompass 2023, Buy Now Pay Later, Moderner Ratenkauf, bequem und verführerisch?, Wiesbaden, September 2023).
Auch die Entwicklung bei der Rückzahlung von Konsumentenkrediten ist stabil. Im aktuellen Risiko- und Kreditkompass verzeichnet die Schufa zum 31. 12. 2022 rund 18,3 Mio. laufende Ratenkredite in ihrem Datenbestand. ZVI 2023, 422Davon entfallen 2,6 Mio. Kredite auf eine Höhe von unter 1.000 € und 15,7 Mio. Kredite auf von 1.000 € und mehr. Interessant ist die dabei die Entwicklung der pro Jahr neu abgeschlossenen Kreditverträge. Im Jahr 2020 waren dies immerhin 6,7 Mio. neue Kredite. 2021 stieg die Zahl auf knapp 7 Mio. und im Jahr 2022 nochmals auf 9,1 Mio. neue Verträge. Davon entfielen 2022 gut 3,8 Mio. auf Kleinstkredite von bis zu 1.000 € und 5,3 Mio. auf Kredite über 1.000 €, deren durchschnittliche Höhe bei 17.630 € liegt. Nur am Rande sei erwähnt, dass es sich bei den boomenden Kleinstkrediten vor allem um Kredite des Buy Now Pay Later (BNPL) handelt, die vor allem im E-Commerce-Handel angeboten werden und bei jüngeren Erwachsenen besonders beliebt sind. Ob es sich beim BNPL überhaupt um einen Kredit handelt oder laut der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) um ein „kreditbasiertes Bezahlen“, mag an dieser Stelle dahingestellt sein. Zweifelsohne birgt diese Zahlungsform für Verbraucher das Risiko, dass kettenmäßig eine Reihe solcher Angebote in Anspruch genommen werden und die Gesamtbelastung daraus aus den Augen verloren wird.
Nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes haben 2021 durchschnittlich 28 % der Ratsuchenden der Schuldnerberatung Schulden bei Online- und Versandhändlern. Jedoch liegt der Anteil dieser Gläubiger bei den jüngeren Personengruppen deutlich höher. Bei den 20- bis 24-Jährigen sind es 38 % und bei den 25- bis 34-Jährigen 34 %. Mit zunehmendem Alter reduziert sich der Anteil (Destatis, Pressemitteilung Nr. 001 v. 12. 1. 2023).
Es wird verstärkter präventiver Maßnahmen bedürfen, um die Finanzkompetenz der Kunden solcher Angebote zu stärken. Die EU will mögliche Gefahren der Ver-/Überschuldung eindämmen, indem die künftige Verbraucherkreditrichtlinie auch bei Kleinstkrediten unter 200 € eine Bonitätsprüfung vorsieht. In Bezug auf die Evaluation zur Gesetzesreform 2020 wird vor allem das Rückzahlungsverhalten der Kreditnehmer im Fokus stehen. Hier konstatiert die Schufa, dass dies erfreulicherweise weiterhin auf sehr hohem Niveau liegt. Im Jahr 2022 wurden demnach 97,9 % aller aufgenommenen Ratenkredite vertragsgemäß bedient.
Als weiterer Gradmesser bezüglich des Evaluationsauftrages soll die Entwicklung der Antragszahlen im Bereich der Verbraucherinsolvenzen betrachtet werden. Für 2021 ist nach dem Inkrafttreten der Reform in der Tat eine sehr signifikante Steigerung um 90 % auf 79.620 Verfahren gegenüber rd. 41.750 Verfahren in 2020 festzustellen. Dies hat jedoch besondere Gründe, denn seinerzeit haben viele Betroffene ihren Insolvenzantrag zunächst zurückgehalten, um die vor der Tür stehende Neuregelung in Anspruch nehmen zu können. Bereits im Jahr 2022 hat sich die Zahl der Verbraucherinsolvenzen wieder um 16,6 % reduziert auf ca. 66.500 Verfahren; dies ist etwa im Bereich des Standes in den Jahren 2019 (62.600) und 2018 (67.600). Im 1. Halbjahr 2023 wurden 33.200 Verbraucherinsolvenzen konstatiert, die Hochrechnung ergibt somit einen ähnlichen Wert wie 2022. Insgesamt ist es seit der Gesetzesreform 2020 – mit Ausnahme des Jahres 2021 – nicht zu einer dauerhaften signifikanten oder gar explosionsartigen Steigerung der Verbraucherinsolvenzen gekommen.
Allerdings gibt es Anzeichen, dass sich der Trend in naher Zukunft verändern könnte. Die anhaltend hohe Inflation, die besonders Bezieher von Transferleistungen, kleinen und mittleren Einkommen stärker trifft, gestiegene Energiepreise, galoppierende Mieten gerade in Ballungsräumen, eine markante Delle in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie steigende Unternehmensinsolvenzen (und dadurch eine Erhöhung der Arbeitslosenzahlen) zeigen an, dass zunehmend mehr Privathaushalte in wirtschaftliche Nöte geraten und die Zahl der Verbraucherinsolvenzen in den nächsten Jahren ansteigen kann. Diese Entwicklung ist eingebettet in eine gesellschaftliche Rahmensituation, die auch mitgeprägt ist von steigender Armut in der Bevölkerung. Gemäß dem aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes gibt es 2021 deutschlandweit eine Armutsquote von 16,9 %. Damit gelten 14,1 Mio. Menschen als arm und somit 600.000 mehr als noch 2020. Besonders betroffen sind alte Menschen, Kinder, Alleinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern.
Auffallend ist auch der starke Zuwachs Selbstständiger an der Armutspopulation. Ihre Quote stieg 2021 auf 13 % (zuvor 9 %), dies bedeutet einen Zuwachs um 46 % im Vergleich zum vorangegangenen Bericht (Zwischen Pandemie und Inflation, Paritätischer Armutsbericht 2022, 2. aktualisierte Auflage, Paritätischer Gesamtverband, Berlin, März 2023). Aus der Praxis ist dies weniger verwunderlich, denn Selbstständige (und davon viele mit kleinerem Gewerbe) mussten in der Pandemie und anschließend in der Energiepreiskrise starke finanzielle Einbußen erleiden. Mit diversen Sofortmaßnahmen und Entlastungspaketen wurden die Bevölkerung insgesamt und auch Selbstständige vielfach spürbar unterstützt. Jedoch ist es nicht allen gelungen, den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten oder nach dem Wegfall der Beschränkungen während der Coronapandemie wieder ins Laufen zu bringen.
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Nicht wenige dieser Menschen suchen in ihrer Not die Unterstützung einer Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle, insbesondere wenn die Mittel zur Beauftragung eines anwaltlichen Beistandes fehlt. Doch nicht alle können dort Rat und Hilfe finden. Sind in diesen Fällen gem. § 304 InsO mehr als 19 Gläubiger vorhanden oder bestehen Forderungen aus Arbeitsverhältnissen, auch wenn dies nur kleinere Restbeträge sind, so unterfallen diese Personen dem Regelinsolvenzverfahren. Die Zuständigkeit der geeigneten Stellen hingegen liegt im Bereich des Verbraucherinsolvenzverfahrens. Es herrscht bei den Trägern und Mitarbeitern der Schuldner- und Insolvenzberatung große Verunsicherung, ob sie aufgrund der derzeitigen gesetzlichen Grenzlinie z. B. einen ratsuchenden ehemaligen Selbstständigen mit mehr als 19 Gläubigern beraten und unterstützen können. Häufig steht hier kein entsprechendes Beratungsangebot zur Verfügung. Dies sorgt bei den wirtschaftlich meist ausgezehrten Betroffenen für Frust und stößt bei den Beratungskräften auf Unzufriedenheit, da es in der Regel einen überschaubaren Aufwand darstellt, diesen Menschen durch Unterstützung bei der Erstellung eines Regelinsolvenzantrages einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum wirtschaftlichen Neuanfang zu helfen. Bundesweit leisten eine Reihe von Beratungsstellen für diesen Personenkreis bereits jetzt konkrete Hilfestellung, z. B. im Rückgriff auf den gesetzlichen Unterstützungsauftrag gem. § 16a SGB II zur ganzheitlichen und umfassenden Betreuung zur Eingliederung in Arbeit. Jedoch ist es derzeit für diesen Personenkreis im Grunde ein Lotteriespiel, ob sie eine entsprechende Hilfestellung vor Ort erhalten. Es erscheint paradox und inhuman, wenn der ehemals Selbstständige mit 21 Gläubigern nicht auf die Unterstützung der zuständigen Beratungsstelle bauen kann, sein Nachbar aber als Arbeitnehmer und Verbraucher dort Hilfe findet, auch mit beispielsweise 50 Gläubigern. Es bedarf einer Regelung, die allen natürlichen Personen eine gleichwertige und gesetzlich abgesicherte Hilfestellung ermöglicht. Daher sollte im Zuge der Evaluierung auch die Regelung des § 304 InsO hinsichtlich einer entsprechenden Modifizierung überprüft und nach einer anderweitigen Lösungsmöglichkeit gesucht werden. In diese Richtung geht auch der Vorschlag der Arbeitsgruppe Reform der Verbraucherinsolvenz in Ziffer 6 ihres Diskussionspapiers (ZVI 2023, 341 ff.).
Fazit: Eine Beibehaltung der Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens von 3 Jahren wäre aus Sicht des Verfassers auch nach der Evaluation in jedem Fall sinnvoll und notwendig. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die finanzielle Verantwortlichkeit eines Teils der Bevölkerung dadurch untergraben und das Restschuldbefreiungsverfahren in besonderem Umfang missbräuchlich in Anspruch genommen wurde. Für Menschen, die in eine nachhaltige wirtschaftliche Schieflage gekommen sind, ist es eine Hilfestellung, mit der man das Licht am anderen Ufer wieder sieht. Insofern schließt der Autor diesen Beitrag in der Hoffnung, dass die Prognose von Saager (ZVI 2023, 274 f.) zum Fortbestand der Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens eintritt und drückt hierfür die Daumen.
Dipl.-Sozpäd. Klaus Hofmeister, Abteilungsleiter im Sozialreferat der Landeshauptstadt München

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