ZVI 2023, 385

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz ZVI 2023 EditorialFrank Lackmann

Nach der Reform ist vor der Reform

Seit nunmehr genau drei Jahren sind die neuen Regelungen zur Verbraucherinsolvenz in Kraft. Die ersten Restschuldbefreiungen nach der neuen Abtretungsfrist von drei Jahren dürften bei Erscheinen dieses Hefts bereits erfolgt sein oder alsbald erfolgen. Ein Meilenstein in der Geschichte des Restschuldbefreiungsverfahrens, galt doch seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung im Jahre 1999 für über 20 Jahre eine Laufzeit der Abtretungserklärung von sechs Jahren. Im kommenden Jahr steht sodann die Evaluation der letzten Reform des Verbraucherinsolvenzrechts bevor. Nach Art. 107a EGInsO hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis zum 30. Juni 2024 zu berichten, wie sich diese Verkürzung auf das Antrags-, Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern ausgewirkt hat. Diese Evaluation mag selbstverständlich kaum zu belastbaren Ergebnissen führen, dafür dürfte der zu evaluierende Zeitraum zu kurz sein. Das Ergebnis sei aber hier kurz vorweggenommen: Die Verkürzung wird sich nicht auf das Zahlungs- und Wirtschaftsverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern ausgewirkt haben, denn niemand macht Schulden aus Spaß und in froher Erwartung eines nur drei Jahre andauernden Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens.
Dennoch bietet es die Evaluation freilich an, sich Gedanken um eine Fortentwicklung des Privatinsolvenzverfahrens zu machen. Vorschläge liegen bereits auf dem Tisch. Da ist zum einen die Harmonisierungsrichtlinie der EU (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=celex%3A52022PC0702). Zum anderen liegen interessante Vorschläge der „Arbeitsgruppe Reform der Verbraucherinsolvenz“ vor (abgedruckt in ZVI 2023, 341). Insbesondere die Vorschläge der Arbeitsgruppe bzgl. der Umgestaltung des Schuldenbereinigungsplanverfahrens sind äußerst unterstützenswert. Der gerichtliche Schuldenbereinigungsplan spielt in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle. In nur wenigen Fällen kommt ein Zustimmungsersetzungsverfahren in Betracht. Erfahrungen mit einzelnen Insolvenzgerichten zeigen, dass dennoch gerichtliche Schuldenbereinigungspläne versendet werden, obwohl die Schuldnerinnen und Schuldner dies nicht möchten. Folge ist, dass sich die Insolvenzeröffnung verzögert und teilweise mehrere Monate ungenutzt ins Land ziehen. Von daher wäre die Durchführung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans nur auf Antrag der Schuldnerinnen und Schuldner wünschenswert. Das entlastet die Schuldnerberatungsstellen und Anwaltschaft sowie nicht zuletzt auch die Gerichte.
Von besonderer Praxisrelevanz sind die vorgeschlagenen Änderungen zum Forderungsanmeldungsverfahren und hier insbesondere in Bezug auf die ausgenommenen Forderungen nach § 302 InsO. Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine Klärung der Frage, ob eine Forderung schlussendlich der Restschuldbefreiung unterliegt, nicht bis zur Restschuldbefreiung erfolgen können soll. Der BGH hat entschieden, dass die Klärung der Frage, ob eine Forderung der Restschuldbefreiung unterliegt oder ob es sich um eine Forderung i. S. d. § 302 InsO handelt, auch im Zwangsvollstreckungsverfahren nach Erteilung der Restschuldbefreiung erfolgen könne (BGH v. 3. 4. 2014 – IX ZB 93/13, ZVI 2014, 258). Im Sinne der Rechtssicherheit hat diese Frage aber spätestens bis zur Rechtskraft des Beschlusses über die Restschuldbefreiung geklärt zu sein. Alles andere verlagert die Problematik auf einen Zeitpunkt, zu dem es den Schuldnerinnen und Schuldnern immer schwerer fallen wird, sich gegen die Feststellung des Attributs ZVI 2023, 386einer Forderung als vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung zu wehren. Es wäre daher folgerichtig, wenn der Gläubiger, sofern er nicht über einen qualifizierten Titel verfügt, der auch die vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung durch Tenor und Entscheidungsgründe feststellt, spätestens bis zum Schlusstermin die Klage auf Beseitigung des Widerspruchs erheben muss. Dann erfolgt eine Klärung der Frage, welche Forderungen der Restschuldbefreiung unterliegen und welche nicht, relativ zeitnah. Das ist gesetzgeberisch auch einfach zu lösen, indem in § 184 Abs. 1 InsO eine Frist bis zum Schlusstermin eingefügt wird.
Aber auch im materiellrechtlichen Sinne sollte bei den Reformüberlegungen ein Blick auf die ausgenommenen Forderungen nach § 302 InsO gelegt werden. Die 2014 erfolgte Ausweitung des § 302 InsO in Bezug auf den vorsätzlich pflichtwidrig nicht gewährten Unterhalt führt in der Praxis zu großen Unsicherheiten. Auch viele Jahre später ist noch nicht endgültig geklärt, wann Unterhalt eigentlich vorsätzlich pflichtwidrig nicht gewährt sein soll (vgl. Henning/Lackmann/Rein-Lackmann, Privatinsolvenz, 2. Aufl., 2022, § 302 Rz. 8 ff.). Es ist in der Praxis festzustellen, dass viele Unterhaltsgläubiger (insbesondere Jugendämter und Unterhaltsvorschusskassen) Unterhaltsforderungen als unerlaubte Handlung anmelden und nicht über einen qualifizierten Titel verfügen. Nach dem erfolgten Widerspruch der Schuldnerinnen und Schuldner passiert allerdings nichts und die Frage, ob nun eine ausgenommene Forderung i. S. d. § 302 Nr. 1 InsO vorliegt, erfolgt nicht, zumindest nicht bis zur Restschuldbefreiung. Es ist also zu überdenken, ob Unterhaltsschulden, wie in der Vergangenheit auch, nicht wieder unter dem allgemeinen Merkmal der vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung behandelt werden sollten.
Die Praxis zeigt aber auch, dass sich schleichend neue „quasi ausgenommene Forderungen“ gebildet haben. Einige Landessozialgerichte sind nämlich der Auffassung, dass Sozialleistungsforderungen mit (unpfändbaren) laufenden Sozialleistungen nicht nur im Insolvenzverfahren und in der Wohlverhaltensphase auf- oder verrechnet werden können, sondern auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung (so LSG München v. 21. 3. 2018 – L 13 R 25/17, ZVI 2018, 352; LSG Potsdam v. 12. 5. 2022 – L 21 U 15/19). Demgegenüber stellen das LSG Essen (v. 15. 3. 2018 – L 19 AS 1286/17, ZVI 2018, 395) und das LSG Erfurt (v. 8. 6. 2021 – L 12 R 331/18) völlig zu Recht klar, dass eine Auf- bzw. Verrechnung nach erteilter Restschuldbefreiung nicht in Frage kommt. Lässt man aber eine Auf- bzw. Verrechnung nach erteilter Restschuldbefreiung weiterhin zu, liegt quasi eine ausgenommene Forderung vor, die im Regelfall rein gar nichts mit vorsätzlichem Verhalten der Schuldnerinnen und Schuldner zu tun hat und die sich die Wirkungen des § 301 Abs. 1 InsO nicht entgegenhalten lassen muss. Im Gesetz, z. B. in § 301 InsO, sollte daher eine Regelung aufgenommen werden, die zumindest die Aufrechnungsmöglichkeiten von Insolvenzforderungen mit dem laufenden Einkommen (Rente, Krankengeld, ALG I und Bürgergeld etc.) des restschuldbefreiten Schuldners ausschließt.
Die (vorläufigen) Ergebnisse der „Arbeitsgruppe Reform der Verbraucherinsolvenz“ sollten Anlass bieten, die dort aufgeworfenen Fragen und Lösungsangebote weiter zu vertiefen und mit dem Gesetzgeber in den Austausch zu gehen. Die Vorschläge würden für ein strafferes und effizienteres Verfahren sorgen und einen fairen Ausgleich zwischen Gläubiger- und Schuldnerschaft ermöglichen. Alle am Privatinsolvenzverfahren beteiligte Personen seien aufgerufen, an den Vorschlägen der Arbeitsgruppe mitzuarbeiten. Denn: Nach der Reform ist vor der Reform.
Rechtsanwalt Frank Lackmann, Bremen

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