ZVI 2022, 365

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher-, Privat- und Nachlassinsolvenz ZVI 2022 EditorialKlaus Hofmeister

Mehr Fortschritt wagen

Galoppierende Preisanstiege bei der Energieversorgung sowie die seit Jahrzehnten höchste Inflationsrate von derzeit rd. 8 % erschüttern die Kassenlage vieler Privathaushalte, aber auch die von Unternehmen verschiedenster Größenordnung. Der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, äußerte kürzlich in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland die Befürchtung, dass viele Menschen demnächst ihre hohen Strom- und Gasrechnungen nicht mehr bezahlen könnten. Privatinsolvenzen seien daher seine größte Sorge. Auch vielen Unternehmen stünden auf der Kippe. Ebenso skizzierte die Süddeutsche Zeitung (SZ) in diversen Berichten die Situation zahlreicher Firmen, die wegen des rasanten Anstiegs der Energiepreise ums Überlegen kämpfen müssten (SZ v. 12. 9. 2022, S. 13; SZ v. 14. 9. 2022, S. 17).
Dies schlägt beispielsweise auch auf die Wohnungswirtschaft durch. So haben im Juli 2022 in einer Umfrage des Verbandes der bayerischen Wohnungswirtschaft (VdW Bayern) 56 % der Unternehmen ein hohes oder sehr hohes Risiko gesehen, dass es bei „großen Teilen“ ihrer Mieterschaft zu Zahlungsausfällen infolge des drastischen Anstiegs der Energiepreise kommt. In Fachkreisen wird dabei von mindestens von einer Verdoppelung oder gar von einer noch weit höheren Steigerung der Heizkosten für die Privathaushalte ausgegangen. Für die Wohnungswirtschaft ist die Situation allein schon deshalb kritisch, weil die Unternehmen die Heizkosten zunächst teilweise vorfinanzieren und im Rahmen der Betriebskostenabrechnungen dann die rückständigen Beträge von den Mietern einfordern. Bei Zahlungsschwierigkeiten bleiben diese dann beim Worst Case auf den noch offenen Kosten sitzen. Viele Unternehmen raten daher ihren Mietern zu einer freiwilligen Anhebung der Abschlagszahlungen, um künftige Nachzahlungen noch erträglich zu halten. Von den an der Umfrage beteiligten 122 Unternehmen mit 161.000 Wohneinheiten ist zu 67 % Gas als primärer Heizenergieträger im Einsatz (ganz Deutschland: 49 %). Daran wird deutlich, dass sich diese Problematik nicht so einfach auflösen lässt und auch in der Zukunft noch geraume Zeit anhalten wird, denn ein Wechsel des Energieträgers bei der Heizung ist nicht von heute auf morgen umzusetzen und andere Maßnahmen sind nur bedingt wirksam (z. B. Optimierung von Heizungsanlagen, Absenkung der Temperatur in Treppenhäusern etc.).
Vor dem Hintergrund dieser vielschichtigen und komplexen Problematik, die verschiedenste Lebens- und Wirtschaftsbereiche betrifft, wirft sich die Frage auf, ob wir – wie das DIW es befürchtet – am Beginn einer Flutwelle von Privat- und Unternehmensinsolvenzen stehen? Aussagen hierzu gleichen einem Blick in die berühmte Glaskugel. Denn viele Privathaushalte sind bemüht die Mehrkosten mit einer Reduzierung von anderen Konsumausgaben zumindest teilweise aufzufangen. Gleichzeitig versucht die Bundesregierung die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger wie auch von Unternehmen mit gewaltigen Energie-Entlastungspakten zu dämpfen. Die Entlastungspakete eins und zwei hatten ein Volumen von zusammen rund 30 Mio. €. Das dritte Paket wird mit weiteren 65 Mio. € kalkuliert. Trotz dieser gewaltigen Anstrengungen befürchten Sozialverbände und die bayerische Landespolitik, dass die explodierenden Energiepreise in Bälde hunderttausende Menschen in Existenznot bringen könnten. Gefordert werden vom Bund weitere Aktivitäten, die über Einmalzahlungen hinausgehen. Dieser hat hierzu mittlerweile eine ZVI 2022, 366Expertenkommission eingerichtet, die entsprechende Vorschläge unterbreiten soll (SZ v. 15. 9. 2022, S. R7 und v. 16. 9. 2022, S. 1).
Kritisch zu hinterfragen ist, ob die einzelnen bisherigen Maßnahmen auch genügend zielgerichtet justiert sind und tatsächlich in ausreichendem Umfang bei den Personen ankommen, die in dieser Situation am dringlichsten Unterstützung benötigen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in einer differenzierten Analyse der Entlastungspakete eins und zwei festgestellt, dass ärmere Haushalte trotz dieses Bündels an Maßnahmen von den Energiepreisexplosionen weitaus stärker belastet werden als finanzstärkere Haushalte. Daher erfolgte der Rat, künftig einkommensschwache Haushalte gezielter zu entlasten (DIW Wochenbericht 17/2022). Diese verfügen in der Regel auch über kein Einsparpotential, Geringverdiener und Sozialleistungsbezieher werden inflationsbedingt faktisch noch ärmer und die Gefahr steigt, dass sie in einen Schuldenstrudel geraten. Zum Hintergrund ist festzuhalten, dass arbeitslose Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslose mit Bezug von SGB II-Leistungen, gemäß dem Schuldenreport 2022 des Institutes für Finanzdienstleitungen Hamburg (iff) mit über 20 % die größte Personengruppe am Klientel der Schuldnerberatung sind.
Problematisch erscheint auch, dass die Energiepreispauschale (EPP), die berufstätigen Personen im September 2022 mit der Lohnabrechnung ausbezahlt wird, im Gesetz nicht ausdrücklich als unpfändbar gestellt und damit vor dem Insolvenzbeschlag geschützt wurde. Eine Freigabe über eine P-Konto-Bescheinigung ist somit mangels gesetzlicher Regelung nicht möglich. Daher bleibt Betroffenen nur der Weg, einen Freigabeantrag beim zuständigen Vollstreckungsgericht zu stellen. Ob die Unpfändbarkeit der EPP aus § 811 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Belassung von Feuerungs- und Beleuchtungsmitteln zur Sicherstellung einer bescheidenen Lebens- und Haushaltsführung) bzw. aus § 851 Abs. 2 ZPO (schutzwürdige Zweckbestimmung zur Vermeidung von Versorgungssperrungen) abgeleitet werden kann, ist offen bzw. strittig. Grote z. B. bejaht die Unpfändbarkeit der Zweckbestimmung, Maurer hingegen verneint dies (beide in BAG-SB Informationen 2022, 246 ff.). Das Bundesfinanzministerium hat zwischenzeitlich in seinen FAQs zur EPP klargestellt, dass die EPP von einer Lohnpfändung nicht umfasst sei, da es sich arbeits- und sozialversicherungsrechtlich nicht um „Arbeitslohn“ oder „Arbeitsentgelt“ handelt. Die steuerrechtliche Einordnung der EPP als Arbeitslohn sei insoweit unbeachtlich (www.bundesfinanzministerium/de/Content/DE/FAQ/energiepreispauschale.html). Allerdings ist damit die Problematik bei Kontopfändungen noch nicht vom Tisch. Als kleiner Trost kann vernommen werden, dass aus den Reihen der SPD-Bundestagsfraktion verlautbart wurde, dieses Versäumnis zu korrigieren. So hat diesbezüglich die SPD-Abgeordnete Nadine Heselhaus bei der Haushaltsdebatte im Bundestag am 6. September 2022 verlautbart: „Die vereinbarten Entlastungen sind zielgerichtet… Damit Einmalzahlungen auch diejenigen erreichen, die bereits in den Schuldensog geraten sind, müssen wir klar regeln, dass sie unpfändbar sind, weil es nicht sein kann, dass dieses Geld am Ende Inkassounternehmen zufließt.“ (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 20/49, S. 5301).
Leider sind relevante materielle Hilfestellungen für einkommensschwache Haushalte aus Sicht des Verfassers im nunmehr vorliegenden dritten Paket nur teilweise gelungen. Hierzu zwei Beispiele:
Die Ampel-Koalition beabsichtigt mit dem Entlastungspaket drei auch die Erhöhung des Regelsatzes im SBG II und XII um rd. 53 € auf 502 (derzeit 449) € im Zuge der Einführung eines Bürgergeldes (Bürgergeld-Gesetz) zum 1. 1. 2023. Angesichts der Tatsache, dass eine Erhöhung um 53 € bei einer Inflation von 8 % kaum viel mehr als die Geldentwertung ausgleicht, erscheint dies eher zynisch. Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Experten und die Wohlfahrtsverbände in Deutschland seit Jahren eine Reform der Regelbedarfsbemessung zur realen Sicherung des Existenzminimums fordern. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband Deutschland e. V. zum Beispiel hat diesbezüglich unlängst einer Erhöhung der Regelsätze um 200 € ab Herbst 2022 und „die zügige, seriöse und zeitgemäße Berechnung auskömmlicher Regelsätze für das Jahr 2023“ gefordert (Der Paritätische, Fachinfo v. 26. 8. 2022).
Im Grunde ins gleiche Horn bläst der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., der in seiner Stellungnahme vom 23. 8. 2022 zum Bürgergeld-Gesetz als weiteren Regelungsbedarf anmahnt: „Aufgrund der aktuellen Preissteigerungen der allgemeinen Lebenshaltungs- und Energiekosten sind dringend nachhaltige Lösungen für die Haushalte in der Grundsicherung notwendig, um das Existenzminimum zu sichern.“
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Hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, das bereits 2010 (BVerfG v. 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09) und 2014 (BVerfG v. 23. 7. 2014 – 1 BvL 10/12) auf die Gefahr von Unterdeckungen im Regelbedarf durch Preissteigerungen hingewiesen und angemahnt hat, dass der Gesetzgeber in einer solchen Situation nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten dürfe. Zitat: „Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten. (1 BvL 10/12, Rz. 144).
Weiteres Beispiel: Im Leistungsbezug von SGB II und XII werden die Heiz- und Warmwasserkosten in angemessener Höhe vom jeweiligen Leistungsträger im Rahmen der Kosten der Unterkunft übernommen. Die Ausgaben für Haushaltsstrom sind dagegen Bestandsteil der Regelleistung (Regelsatz). Im Jahr 2021 betrugen die im Regelbedarf enthaltenen Stromkosten für einen Einpersonenhaushalt im SBG II und SGB XII monatlich 35,71 €. Dies ist allerdings nicht ausreichend. Eine Modellrechnung mit dem Münchner Grundversorger ergab für einen solchen Haushalt unter Zugrundelegung von einem Verbrauch von 1.800 kWh pro Jahr monatliche Gebühren von 65 €. Das sind 30 € mehr im Monat als der Regelbedarf im Gesetz für Strom derzeit vorsieht. Angesichts dieser Sachlage verwundert es nicht, dass Stromschulden bundesweit eine beträchtliche Dimension einnehmen, insbesondere bei Beziehern von Leistungen nach dem SGB II und XII. Im Jahr 2020 ermittelte die Bundesnetzagentur rund 4,75 Mio. Haushalte, denen eine Stromsperre angedroht wurde, davon wurde bei 910.000 Fällen das Sperren in Auftrag gegeben. Über Schuldenregulierungen konnte in zwei Drittel der Fälle die Sperrung letztlich vermieden werden, so dass es letztlich in rund 300.000 Fällen zu Stromsperrungen kam (Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2021). Leider sieht der Koalitionsvertrag keine Reform der Regelsatzbemessung vor. Dennoch könnte die Erörterung des Bürgergeld-Gesetzes dafür genützt werden, den Strombedarf aus der Regelleistung im SBG II und XII herauszulösen und bei den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung zu verorten, also bei den Energiekosten.
Fazit: Auch wenn die befürchtete Welle an Privatinsolvenzen angesichts der historisch hohen Inflation und der Eskalation der Energiepries hoffentlich ausbleibt, so gibt es noch genügend Baustellen zur Eindämmung der Überschuldung privater Haushalte in Deutschland. Eine davon ist der in diesen Sommer vorgelegte Entwurf eines Bürgergeld-Gesetz, der genutzt werden sollte um Schwachstellen in der Sozialgesetzgebung abzustellen, die Überschuldungslagen auslösen und Armutsverhältnisse zementieren können. Das Ampelbündnis sollte hier gemäß dem Motto seines Koalitionsvertrages mehr Fortschritt wagen.
Klaus Hofmeister, Abteilungsleiter im Sozialreferat der Landeshauptstadt München

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