ZVI 2018, 1

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln 1619-3741 Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht ZVI 2018 EditorialAndreas Schmidt

Insolvenz und Patchwork – Berücksichtigung faktischer Unterhaltspflichten?

Zugleich Anmerkungen zu BGH v. 19. 10. 2017 – IX ZB 100/16, ZVI 2018, 33 (in diesem Heft)

Statistische Angaben dazu, wieviel Prozent aller Schuldner in sog. Patchwork-Familien leben, existieren soweit ersichtlich nicht. Es müssen zahlreiche sein, denn in der Schuldnerberatung hat das Thema eine große Relevanz.
Der Meinungsstand: Es ist umstritten, ob Personen, mit denen ein Schuldner in einer sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft lebt, denen gegenüber er aber nicht zur Zahlung gesetzlichen Unterhalts verpflichtet ist, bei der Berechnung des dem Schuldner zu belassenen Betrages nach § 850f Abs. 1 lit. a ZPO zu berücksichtigen sind. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dies sei nicht der Fall, weil mit den „Personen, denen er Unterhalt zu gewähren hat“, nur gesetzliche Unterhaltspflichten i. S. v. § 850c ZPO gemeint seien (etwa: LG Münster, Beschl. v. 31. 1. 2017 – 5 T 30/17). Eine faktische Unterhaltspflicht sei nicht wie eine gesetzliche Unterhaltspflicht zu behandeln, weil in § 850f Abs. 1 lit. a ZPO ausdrücklich auf § 850c ZPO Bezug genommen werde und in § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO explizit nur von gesetzlichen Unterhaltspflichten die Rede sei. Dieser Auffassung hat sich nun auch der BGH mit Beschluss vom 19. 10. 2017 im Ergebnis angeschlossen. Noch nicht entschieden ist allerdings die Frage, ob dann, wenn die dem Schuldner belassenen Mittel das Existenzminimum unterschreiten, auch faktische Unterhaltspflichten zu berücksichtigen sind. Der BGH hat hierzu in der genannten Entscheidung einige Anmerkungen gemacht, die eher darauf schließen lassen, dass er in einer solchen Konstellation die faktische Unterhaltspflicht im Rahmen des § 850f Abs. 1 lit. a ZPO berücksichtigen will.
Nach anderer Auffassung liegt generell eine faktische Unterhaltspflicht vor. Diese Unterhaltspflicht sei bei der Berechnung des notwendigen Lebensunterhalts nach § 850f Abs. 1 lit. a ZPO zu berücksichtigen. Die entsprechende Anwendung des § 850f ZPO sei nämlich geboten, um den notwendigen Lebensunterhalt des Schuldners selbst und der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen sicherzustellen. Nur mit einer solchen entsprechenden Anwendung des § 850f ZPO könne seinem offensichtlichen gesetzgeberischen Zweck Rechnung getragen werden und eine systemwidrige Ungleichbehandlung vermieden werden (etwa: LG Essen, Beschl. v. 4. 9. 2014 – 7 T 285/14, ZVI 2015, 155).
Die letztgenannte Ansicht, der im Ergebnis auch das LG Braunschweig (Beschl. v. 13. 12. 2016 – 6 T 691/16; durch BGH, Beschl. v. 19. 10. 2017 – IX ZB 100/16, ZVI 2018, 33 nunmehr aufgehoben) gefolgt ist, erscheint auf den ersten Blick vorzugswürdig, weil nur diese Auffassung die gesetzgeberischen Wertentscheidungen des Sozialhilferechts, d. h. auch des SGB II, bei der Auslegung der Vorschriften des Zwangs-ZVI 2018, 2vollstreckungsrechts berücksichtigt. Wenn Sozialleistungen unter Hinweis auf das Einkommen des Partners versagt werden, könnte sich ein Schuldner der daraus resultierenden finanziellen Belastung nur durch Beendigung der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin entziehen. Aber kann ihm dies – auch unter Berücksichtigung der Gläubigerinteressen – wirklich zugemutet werden? Beantwortet man diese Frage mit einem „Nein“, so sind die mit dem Schuldner in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen bei der Ermittlung des pfändungsfreien Betrags zu berücksichtigen, wenn der notwendige Bedarf des Schuldners und der in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ansonsten tatsächlich nicht gedeckt wäre.
Andererseits: Der Wortlaut des § 850f Abs. 1 lit. a ZPO, der gerade voraussetzt, dass eine Pflicht zur Unterhaltsleistung bestehen muss, spricht gegen eine Berücksichtigung. Sofern der Gesetzgeber faktische Unterhaltsleistungen hätte erfassen wollen, hätte er so formulieren müssen, dass Personen zu berücksichtigen sind, denen der Schuldner „Unterhalt gewährt“ und nicht, denen er „Unterhalt zu gewähren hat“. Auch die Systematik der ZPO spricht gegen eine Berücksichtigung: Als Ausnahmevorschrift ist § 850f ZPO grundsätzlich eng und nicht erweiternd auszulegen. Weiterhin entspricht nur dieses Verständnis der Formalisierung des Zwangsvollstreckungsrechts: Die Prüfung faktischer Unterhaltspflichten würde ein erhebliches Maß an Unsicherheit hinsichtlich Umfang und Grenzen der faktischen Unterhaltspflichten eröffnen. Stiefkinder müssten beispielsweise je nach Umfang der faktischen Unterhaltspflicht, die beispielsweise auch von dem tatsächlich gelebten Umgang mit dem anderen Elternteil abhängen könnte, berücksichtigt werden. Leistungsfähigkeit und tatsächliche Leistungen des anderen Elternteils, der nicht Beteiligter des Verfahrens ist, wären zu prüfen. Schließlich wäre eine Berücksichtigung faktischer Unterhaltspflichten abzugrenzen von rein moralischen Verpflichtungen; dies erscheint angesichts der Vielzahl denkbarer Konstellationen kaum leistbar. Schließlich gebietet auch höherrangiges Recht keine anderweitige Auslegung. Richtig ist zwar, dass leibliche und Stiefkinder ungleich behandelt werden. Dies begründet aber keinen Verstoß gegen Art. 3 GG, weil es für diese Ungleichbehandlung einen sachlichen Grund gibt. Leibliche Kinder des Schuldners werden bei der Ermittlung des Pfändungsfreibetrages berücksichtigt, weil sie (außer gegen die Mutter) nur gegen ihn einen Unterhaltsanspruch haben, während seine Stiefkinder (außer gegen die Mutter) zusätzlich einen Unterhaltsanspruch gegen ihren leiblichen Vater haben.
Fazit: Soweit es einen Wertungswiderspruch zwischen der sozialrechtlichen Regelung bei Bedarfsgemeinschaften und der zwangsvollstreckungsrechtlichen Regelung der Pfändungsfreibeträge gibt, so steht sowohl die Identifizierung als auch die Beseitigung dieses Wertungswiderspruchs nicht den Zivilgerichten, sondern dem Gesetzgeber zu (a. A. mit äußerst erwägenswerten Argumenten auch zu § 765a ZPO aber Lackmann, ZVI 2017, 409, der hofft, dass viele weitere Gerichte dem Weg des LG Braunschweig folgen werden; diese Hoffnung dürfte allerdings durch die aktuelle Entscheidung des BGH einen erheblichen Dämpfer bekommen haben).
Dr. Andreas Schmidt

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